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Theater: Spektakel für Millionen

Sind die Festivals eine Gefahr für den Theateralltag? Ein Plädoyer für den Dialog. Von Jürgen Flimm.

Im „Vorspiel auf dem Theater“, das Goethe seinem „Faust“ voranstellt, sagt der Theaterdirektor – heutzutage heißt er Intendant – zur „Lustigen Person“: „Die Masse könnt ihr nur durch Masse zwingen. Ein jeder sucht sich endlich selbst was aus. Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen, und jeder geht zufrieden aus dem Haus.“ Ja, so einfach war das damals. Doch inzwischen hört sich dieser Text an wie der eines mittelmäßigen Fernsehprogrammchefs. Es könnte auch heißen: „Wer vieles bringt, wird Quote bringen.“

Festivals in Deutschland bekommen öffentliche Unterstützung und wären ohne Subventionen weder entstanden noch lebensfähig. Eins der jüngsten, die Ruhrtriennale, im rusty belt von Duisburg bis Dortmund, wird von Nordrhein-Westfalen und seinen jeweiligen Regierungen großzügig unterstützt, unabhängig von der politischen Richtung. Weil sie wissen, wie wichtig ein solches Ereignis für das Überleben der Region ist, haben sie auch in mageren Zeiten in die Säckel gegriffen.

Die Ruhrtriennale ist keine gewöhnliche Ansammlung touristischer Errungenschaften, sondern eine intensive Auseinandersetzung mit neuen theatralischen Formen und dem, was wir landläufig lapidar „Zeitgeist“ nennen (und den wir, Gott sei Dank, nicht wirklich kennen). Es gibt immer mehr Festivals dieser Art, die sich um ästhetischen Fortschritt bemühen. Es gibt allerdings auch solche Festivals, und davon auch mehr als genug, die Gefahr laufen, zu rein kommerziellen und touristischen Events zu degenerieren.

Diese Festivals arbeiten zumeist mit wenigen, teuren Stars. Örtliche Sponsoren lassen dafür gerne mal etwas springen, um sich im Glanze der Promis zu sonnen. Manchmal hilft das Wirtschaftsdezernat. Schließlich geht es auch um Förderung der Hotellerie und Gastronomie am Ort. Das wollen wir nicht tadeln, denn es ist gut investiertes Steuergeld. „Umwegrentabilität“ ist das Zauberwort. Doch Vorsicht! Wenn das der einzige Zweck ist, wird aus dem würzigen Wein der Kunst bald Essig.

Es gibt ja mittlerweile in jedem Heustadel, Kreuzgang und Steinbruch ein Barock-, Renaissance-, Gamben-, Lauten-, Englischhorn-Festival. Eine wahre Flut – gibt es zu viel Kultur? Ist zu viel Überfluss, zu viel Luxus auszuhalten? Nehmen diese zumeist sommerlichen, zumeist hochmögenden Ereignisse unserem traditionellen Theater, unseren Opern, Konzerthäusern Augen, Ohren und gar Geld weg? Sind die beiden etwa Kontrahenten?

Ein Beispiel. Als Hamburg sich zur deutschen Musical-Hauptstadt entwickelte, waren die meisten sehr skeptisch, ob diese Musicals – es begann vor fast 30 Jahren mit „Cats“ im städtischen Operettenhaus an der Reeperbahn – unseren ehrwürdigen Traditionshäusern nicht die Zuschauer wegnehmen würden. Doch welch mangelndes, mausiges Selbstvertrauen sprach aus diesen Befürchtungen! Mozart gegen Andrew Lloyd Webber? Tschechow gegen Kunze? Wieso hatten wir vor diesem Wettbewerb solche Angst? Die Angst war unbegründet.

Meine damalige Theorie, dass sich viele Musicalhäuser auf die allgemeine Theatertemperatur Hamburgs, das ja nicht arm an Theatern ist, positiv auswirken würde, fand ihre entsprechende Realität. Kein Zuschauer blieb weg, weil er im Thalia Webber-süffigen Puccini-Verschnitt vermisste. Natürlich ist Mozart besser, aber auch Rihm und Nono. Natürlich ist Tschechow besser, aber auch Botho Strauß und Peter Handke. Hat das SchleswigHolstein-Festival, das den ganzen Landstrich in Musik tauchte, Schloss, Scheune und Schober mit Klang erfüllte, je den Theatern im Norden Deutschlands geschadet? Waren das Lübecker, Kieler, Bremer, die Hamburger Theater deshalb schlechter besucht? Nein, eben nicht. Aber der Sommer wurde noch schöner!

Festivals können eine große Herausforderung sein und eine provozierende Anstrengung, der sich die Theaterleute und Konzertmanager tunlichst unterziehen sollten. Dass der Staat die Kultur in den Städten unterhält, ist beste deutsche, schweizerische, österreichische Tradition und gehört zur deutschen Geschichte wie die Burgen am Rhein, die Kathedralen in Aachen, Ulm und Köln und die Bilder von Lochner bis Richter. Doch die Sponsoren, die Mäzene, die Förderer der Festivals – was spielen sie für eine Rolle, neben der Staatsknete?

Was den Anteil der privaten Förderung zum Beispiel bei den Salzburger Festspiele betrifft, entdeckt man tatsächlich Erstaunliches. Die berühmten Hauptsponsoren, fünf an der Zahl – Nestle, Audi, Siemens, Uniqa und Credit Suisse – investieren insgesamt nicht einmal zehn Prozent des Gesamtetats von 50 Millionen Euro. Die privaten Förderer, also Bürger wie Sie und ich, steuern allein vier Prozent zu, nämlich über zwei Millionen Euro. Der große Rest stammt fast vollständig von Einnahmen wie denen der Eintrittskarten.

Festivals brauchen Highlights. Außerordentliche Ereignisse sind notwendig, um Aufmerksamkeit zu erzeugen. Der Star als Marketingprodukt für die Sponsoren gehört zum System. Wir nennen das „Event“, dazu gehören Glanz und Gloria, Schampus und feines Fingerfood. Die Stadttheater, Museen und Konzerthäuser hingegen haben eine andere Aufgabe. Sie sind für den Alltag zuständig und verstehen ihren Auftrag zumeist so: gestern, heute, morgen. Also eigentlich immer.

Über dem Potsdamer Theater soll einst gestanden haben: „Dem Vergnügen der Einwohner“. Das ist doch ein guter, sinnvoller Auftrag, wenn wir das Vergnügen im Brechtschen Sinne als Freude an der Erkenntnis beschreiben. Die vornehmste Aufgabe im Theater, schreibt Brecht im „Kleinen Organon für das Theater“, ist die Unterhaltung. Und das täglich. Welcher Service am Kunden! Das Schöne, Wahre, Ewige ist übrigens der Kern der Kunst. Schaffen wir es also nicht ab!

Festivals und traditionelle Kulturinstitute können sehr wohl in einen fruchtbaren Dialog treten, Monologe werden gestrichen. Die Stadttheater sollen und können sich mehr Avantgarde leisten als die freien Festivals; schließlich werden sie dank öffentlicher Zuwendungen, wenn auch manchmal sehr knappen, von den Zwängen der Kasse nicht gar so schlimm in die Budgetzange genommen. Das Verhältnis zwischen Kasse und Kunst ist dort eindeutig von der Kunst bestimmt. Machen wir uns keine Illusionen: Nutznießer dieses Subventionssystems sind wir Kulturbegeisterten. Denn die Eintrittskarten sind subventioniert, und dies nicht zu knapp. Damit Kunst – zumindest in Annäherung – angestrebt werden kann.

Große Festspiele, wie die in Salzburg, kommen nicht in den Genuss solch großzügiger kunstfreundlicher Donation. Sie holen vielmehr 75 Prozent ihres 50-Millionen-Euro-Etats durch Einnahmen herein. Und das ist schwere Arbeit! Wenn ein deutsches Stadttheater an die 30 Prozent einnimmt, gilt es schon als deutscher Meister. Die Festspiele kalkulieren hingegen stets am Rande des Risikos. Wenn einmal die Kasse nicht laut genug klingelt, erschallen stattdessen kleine sirrende Alarmsirenen. Kaum zu glauben: Die berühmten Salzburger Festspiele wurden einst als Friedensinitiative gegründet!

Die Politiker jener kleinen Stadt an der Salzach, die nach den Festspielen wieder ganz auf sich selber zurückfällt, halten es mit dem berühmten Philosophen Konrad Adenauer: Keine Experimente! Es könnte ja ins Geld gehen. Dennoch versuchten die Intendanten, ob sie Mortier, Ruzicka oder Flimm hießen, sich immer wieder in diesem riskanten Revier des Heute, des Zeitgenössischen.

Peter Ruzickas aktuelles Festival, die Münchner Biennale, seinerzeit von Hans Werner Henze gegründet, ist ein gutes Beispiel für den anzustrebenden Dialog. Wird dort doch modernes Musiktheater ausprobiert, das woanders erstmal keine Chance hätte. Die Oper über Walter Benjamin von Brian Ferneyhough hat die Ruhrtriennale damals gemeinsam mit den Münchner Kollegen produziert und so einem wichtigen Beispiel des modernen Musiktheaters auf die Beine geholfen.

Zwischen 2005 und 2008, als ich bei der Ruhrtriennale verantwortlich war, setzten wir uns ein Ziel: Wir wollten vorzügliche Stücke im Glanze der großzügig renovierten Industriehallen zeigen, die sich nun, befreit von Schweiß und Tränen der beginnenden Industrialisierung, einem neuen Feld öffneten, der Kunst. Stücke, die normale Theater mit ihren Repertoirezwängen und lange vorformulierten Perspektiven nicht zur Aufführung bringen können. Auch wollten wir Projekte von Anfang an mitentwickeln. Beispiele dafür sind die fulminante Aufführung von „Rubens“, dessen Text Peter Esterhazy schrieb und die Philip Stölzl inszenierte, Andrea Breths Collage „Unter Tage“ und Christoph Schlingensiefs berührendes Schmerzstück „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“.

Kein Opernhaus nah und fern war bislang in der Lage, eine werkgetreue Aufführung von Bernd Alois Zimmermanns „Soldaten“ zu zeigen. Dieses geniale, 40 Jahre alte Musiktheaterstück nach dem Text des unglücklichen Lenz, das man in einem Atemzug mit Alban Bergs „Wozzeck“ und Arnold Schönbergs „Moses und Aron“ nennen kann, fand in der Jahrhunderthalle in Bochum endlich eine adäquate, den Vorstellungen des großen Kölner Komponisten entsprechende Aufführung. Das kann nur ein Festival, weil es sich mit aller Kraft, auch finanzieller, auf ein solches Projekt konzentrieren kann.

Aber auch die traditionellen Theater können zum Dialog beitragen. Welch schönen Aufbau von ästhetischer Unterweisung gäbe es dort zu entdecken. Nicht das kurzfristige Gehechel nach der schönen Stimme, dem geschmetterten C und den blauen Augen, nach dem Pulttiger, der schönen Buhlschaft und der Wundergeigerin, sondern geduldige Erprobung der Tchechowschen Seelenmenschen, lange Reisen durch den Kontinent namens Shakespeare: auf seinen Inseln anlanden wie Viola in Illyrien, auf seinen Ebenen verrückt werden wie König Lear, in seinen Liebeswäldern irren wie im Sommernachtstraum. Oder in neue Musiken sich einhören, neue Autoren erfahren und junge Schauspieler und Sänger von ihrem Anbeginn an begleiten, bis sie als Stars in die Welt hinausziehen. Und das eben oft und immer. Täglich, auch sonntags, Fidelio und Figaro. Welch ein Reichtum, schier unerschöpflich in den Gehäusen.

Diese zahllosen Theater, Konzerthäuser und Opernbühnen gehören uns allen. Wir sind die Besitzer und die Besetzer. Die Festivals schließen irgendwann ihre Pforten, nach sechs, hoffentlich fröhlichen, Wochen dämmern sie dem nächsten Sommer entgegen. Das Fest in den Städten dauert ein frohes ganzes Jahr. Und wir können noch einmal das sehen, was uns im Sommer so begeistert hat.In den Ferien packen wir wieder unsere Siebensachen, fahren nach Bayreuth und lassen uns von Wagner umtosen, nach Hersfeld in die erhabene Stiftsruine, nach Salzburg oder Pesaro, Ravenna, Luzern… Ein ganzes Leben reicht ja nicht aus, um alle seine Sommer diesen Festivals zu widmen. Und der Dialog wird Wirklichkeit, wenn wir auf einem Domplatz oder in einer Kirche die Lieblinge unseres Stadttheaters wieder sehen und hören. Wär’ das nicht fein, für uns, die Besitzer?

Um den Weimarer Olympier ein letztes Mal zu paraphrasieren: Und Neugier nur beflügle jeden Schritt.

Regisseur Jürgen Flimm, Jahrgang 1941, leitet die Salzburger Festspiele und war Chef der Ruhrtriennale. 2010 wird er Intendant der Berliner Staatsoper.

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