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Theatertreffen: Das Filmteam leistet Sterbehilfe

„Wunschkonzert“ beim Berliner Theatertreffen: Die britische Regisseurin Katie Mitchell rekonstruiert den langen Feierabend-Suizid als Making-of eines Siebziger-Jahre-Films.

Fräulein Rasch kommt von der Arbeit, schließt die Wohnungstür auf, wäscht sich die Hände, behandelt einen Pickel im Gesicht mit Salbe, belegt ein Brot mit Käse und Gurkenscheiben, raucht eine Zigarette. Dann geht Fräulein Rasch zur Toilette, behandelt nochmals den Pickel, schlägt den Feierabend mit Handarbeiten tot, hört Radio und spült schließlich mit einem Glas Sekt eine Überdosis Schlaftabletten herunter.

Vom Radiosound abgesehen, spielt sich Franz Xaver Kroetz’ kaum zehnseitiges Suizid-Drama „Wunschkonzert“ vollkommen wortlos ab: Fräulein Raschs trauriger Feierabend ist eine einzige ausgedehnte Regieanweisung für eine stumme Schauspielerin. Trotz einer gewissen Zeitlosigkeit des Umstands, dass sich Leute lieber umbringen, als immer so weiterzumachen, merkt man dem 1973 uraufgeführten Stück sein Alter an; und zwar nicht nur am Radioprogramm.

Umso bemerkenswerter ist die Lösung, die die britische Regisseurin Katie Mitchell für ihre jetzt beim Theatertreffen gezeigte Inszenierung am Schauspiel Köln gefunden hat: Sie rekonstruiert den langen Feierabend-Suizid als Making-of eines Siebziger-Jahre-Films. Die Bühne gleicht einem für Außenstehende komplett chaotischen Set: Eine bienenfleißige Crew spricht in Mikros, produziert Geräusche, hält Körperausschnitte in Kameras. Aus dieser Live-Wuselei entsteht auf einer vom Schnürboden hängenden Leinwand der Kroetz-Plot als erstaunlich stringentes, homogenes Filmprodukt. Sieht man etwa im Film, wie sich Fräulein Rasch die Hände wäscht, hantiert auf der Bühne ein Double am Wasserhahn.

So verrückt es klingt: Durch die ausgestellte Distanz, die Betonung des Hergestellten jedweder Emotion, vermag dieser Abend komplett kitschfrei zu berühren – zumal die Hauptdarstellerin Julia Wieninger wirklich jedem Close-up mehr als standhält. Mitchell gelingt durch diesen, wenn man so will, einzigen fortgesetzten V-Effekt eine verblüffende Ebenenvielfalt: Einerseits ersteht da die Siebziger-Jahre-BRD mit strengster Liebe zum Detail (Creme 21, Lord-Extra- Zigaretten) in retrospektiver Museumsreife vor der Kamera auf. Zum Zweiten mutet es natürlich mindestens ambivalent an, wie da lauter Soundkünstler, Kameraleute, Musiker und Requisiteure in akribischem Arbeitseifer gleichsam aktive Sterbehilfe leisten. Und nicht zuletzt eignet sich der Abend hervorragend, um mal wieder über das je spezifische Scheitern und die je spezifischen Chancen von Film und Theater nachzudenken.

Bemerkenswert ist aber nicht nur Katie Mitchells radikaler, verdientermaßen mit viel Beifall quittierter Regie-Zugriff, sondern auch die Festivaldramaturgie: An die existenziellen Fragen, die bisher durch Christoph Schlingensiefs „Kirche der Angst“ und – auf völlig andere Weise – Jürgen Goschs Tschechow-Inszenierung „Die Möwe“ bei diesem Theatertreffen gestellt wurden, knüpft Mitchell mit einem abermals neuen Ansatz, aber derselben Intensität und Intelligenz an. So dringlich wie in diesen ersten Festivaltagen fühlte sich Theater, bei gleichzeitiger ästhetischer Vielfalt, tatsächlich lange nicht an.Christine Wahl

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