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Bulgarien: Die Eichelhäher von Sofia

Einst nahm die Weisheit ihren Sitz im alten Thrakien - und aus der byzantinischen Stadt Triadika wurde Sofia. Heute verdient ein Philosophie-Professor dort nicht einmal 350 Euro und kann kaum davon leben. Zwischen Altlasten und Geschichtslosigkeit: Eine Momentaufnahme aus Bulgariens Hauptstadt.

An der Kirche der Heiligen Sofia herrscht Frühlingswetter wie überall in Bulgariens Hauptstadt an diesen sonnig aufflackernden, windbrausend-wasserplätschernden Tagen Mitte April. Traditionell ist es eine wichtige Zeit im Jahr, nicht nur wegen der Bedeutung des kürzlich begangenen Osterfestes für die orthodoxe Welt. Im März schon schenkt man sich Martenizas, rot-weiße Bänder, um sie nach dem Einfliegen des ersten Storchs, den man sieht, an einen blühenden Zweig zu knüpfen, und man begeht die Unabhängigkeit von den Osmanen.

Deshalb flackert neben der Basilika auch ein Feuer zwischen zwei bronzenen Löwen, deshalb hat der Nationaldichter Iwan Wasow in der Nähe der Krypta seinen Stein. Unterhalb der Kirche jedoch sind Archäologen auf noch ältere Spuren nationaler Identität gestoßen. Thrakische Siedlungsreste, römische Sarkophage, frühchristliche Katakomben. Irgendwann nach Vollendung der Christianisierung Bulgariens im neunten Jahrhundert waren Theologen darauf gekommen, das antike Serdika und byzantinische Triadika in „Sofia“ umzubenennen: Stadt der Heiligen Sofia. Damit hatte die Weisheit ihren Sitz im alten Thrakien eingenommen.

Wer heute nach der Philosophie in Sofia fragt, wird auf Professor Dimiter Ginev verwiesen, der zu den renommiertesten Professoren der Sofioter Universität zählt. Gastsemester führten den Humboldt-Fellow nach Berlin, New York und Pittsburgh. Ginevs Dienstzimmer befindet sich im fünften Stock eines aschgrauen Blocks, in dem neben kulturwissenschaftlichen Lehrstühlen auch ein Wein- und Agrarinstitut untergebracht ist – Relikte früherer „Kombinate“.

Wenn Professor Ginev zum Fenster geht, sieht er Hochhausreihen bis an den gebirgigen Horizont, um die Ecke ein kleines Fußballstadion: auf, unter und hinter den Zuschauerrängen, in Gebüschen und an Wegrändern der Plastikmüll zweier Jahrzehnte. Ginev hat neben der Philosophie noch zwei große Passionen: Dauerlauf und – Katzen. Wo alle Welt auf die herrenlosen Hunde starrt – Ilija Trojanow hat dieser postkommunistischen Verwahrlosung in seinem Buch „Die fingierte Revolution“ bissige Glossen gewidmet –, hat er sich die Versorgung der streunenden Katzen zum Ziel gesetzt. Während er Futter austeilt, muss er sich der antänzelnden Hunde erwehren: „Sicher, auch sie haben es nötig, aber allen kann man es nie recht machen“, lacht er.

Das Philosophiegebäude befindet sich zwischen Flughafen und Innenstadt, an der Hauptzufahrtsstraße nach Sofia, der Zarigradsko-Chaussee, die vor 30 Jahren noch Boulevard Lenin hieß, vor 60 Jahren Boulevard Stalin. Heiner Müller, der in den 70er Jahren oft mit seiner damaligen Frau Ginka Tscholakowa in Sofia weilte, fand hier seinen Stoff. Neben einer Wechselstube und einer Glasfassade, auf der in neonroten Lettern „TV Europa“ erstrahlt, steht das ockergelbe Hochhaus, heute mit den Großbuchstaben „King“ auf dem Dach, in dem Müller 1977 an seiner „Hamletmaschine“ schrieb – mit Blick auf das Heizkraftwerk, das den Namen eines von den eigenen Leuten gemeuchelten Märtyrer-Kommunisten trug.

Was schon Müller faszinierte, ist das Nebeneinander von antiken, byzantinischen, osmanischen Relikten und grobschlächtigen Baudenkmälern eines kaum überwundenen „Kommunismus“ sowie einer inzwischen rasant beschleunigten Moderne. Dass ererbte Traditionen zwischen täglichem Überlebenskampf, Profitstreben und westlichem Kulturimport es schwer haben, liegt auf der Hand. „Bulgarien ist das einzige Land, in dem dich die Polizei verfolgt, wenn du mit der eigenen Frau schläfst“, spottete Heiner Müller damals. Heute ist Sofia mit Angeboten der Hochglanzgegenwart geradezu pornografisch aufgeladen.

Obwohl Prostitution offiziell verboten ist, spricht man von 60 000 „geduldeten“ Prostituierten. Weniger die Erotisierung frappiert jedoch am Stadtbild als der Kontrast zwischen den geschichtslosen neuen Schaufenstern samt den sich darin spiegelnden jungen Frauen und den sich um ihre Geschichte betrogen fühlenden Rentnern, die an Straßenecken Blumen feilbieten oder flötend und fiedelnd um die Aufbesserung ihrer Bezüge kämpfen.

In der auf Wiener Caféhausart möblierten Pizzeria Troll am Slavejkow-Platz, einer Bouquinistenoase inmitten rumpelnder Straßenbahnen, treffe ich die Dichterin Fedja Filkova. Sie arbeitet im bulgarischen Außenministerium, war zuvor an der Botschaft in Berlin als Kulturreferentin und für den Präsidenten Peter Stoyanov als Deutschlandberaterin tätig. Zu Schiwkow-Zeiten war sie in einem Staatsverlag zuständig für deutschsprachige Gegenwartsliteratur.

„Wir versuchten damals so viel wie möglich durchzuschmuggeln. Schon die DDR-Literatur galt vielen als zu anstößig“, erklärt sie. Heute geht es eher darum, wie überhaupt ein seriöser Wissenschafts- und Kulturbetrieb aufrechterhalten werden kann. Regierungskreise haben begonnen, mit der Schließung der Akademie der Wissenschaften zu drohen. Und wie sich in Forschung und Lehre behaupten, wenn die Gehälter kaum den Einzelnen ernähren? Ein Unilehrer verdient umgerechnet rund 350 Euro im Monat.

Das Problem Bulgariens ist nicht so sehr ein populistisch geschürter Nationalismus (der wie überall ein Produkt der Perspektivlosigkeit ist) als vielmehr die Tatsache, dass seit 1989 keine durchgreifende kulturelle Neu- oder Weiterentwicklung stattgefunden hat – stattdessen wurde alles auf die Karte des Kapitals gesetzt. Das beginnt sich zu rächen.

Die bei der Einfahrt ins Zentrum grüßende Johnny-Walker-Reklame kann dem, was sie beschwört, immer nur hinterherlaufen. Dennoch setzt die Globalisierung an jedem Ort eigene Akzente; etwa die bulgarische Flagge, aufgepflanzt am Starbucks-Café. Es wäre hinnehmbar, wenn das Eigene dabei nicht, jenseits folkloristischer Zurschaustellung, einfach aus dem Gedächtnis fiele: Detaillierte Studien zur Zeit zwischen 1944 und 1989 fehlen fast völlig.

Für einen Historiker wie Iwan Pervew, einen ausgewiesenen Bismarck-Kenner, der Wegweisendes zur Etablierung des bulgarischen Staates zwischen 1890 und 1910 veröffentlicht hat, aber auch für den Philosophen Dimiter Ginev oder die Dichterin Fedja Filkova, die die Weltsprache der modernen Poesie mit den vergangenen Jahrzehnten bulgarischer Tradition zu verbinden sucht, ist es schade, dass sie mit ihren Anliegen kaum eine größere Öffentlichkeit erreichen. Auch Westeuropa bietet ihnen kein Forum. Es hat die Stimmen vom Balkan nie ernst genommen – oder sich nur für Restjugoslawien interessiert.

Doch hier herrscht eine eigene Zeit, eine Stunde gegenüber der mitteleuropäischen vorgerückt: lange pastellfarbene Abenddämmerungen im Schatten des Witoscha-Massivs mit seinen Zweitausendergipfeln, ein kurzes, sich verspätendes Morgenrot. Keine Frage, Sofia verfügt über Dinge, die man aus anderen Städten kennt. Nur: Welche Metropole hätte öffentliche Mineralquellen in ihrem Zentrum aufzuweisen? Wo sonst gibt es ein Goethe-Institut über den Fundamenten der römischen Arena? Wo einen Präsidentenpalast als Teil des Sheraton-Hotels?

Noch vor Johnny Walker befindet sich, am Ausgang des Stadtwäldchens, der Gradina, ein Partisanendenkmal, das Skateboarder für ihre Zwecke umfunktioniert haben, und nicht weit entfernt eine kürzlich enthüllte Bronzebüste des bulgarischen Monarchen Boris, der 1943 unerwartet gestorben war und, obwohl Hitler-Verbündeter, alle Juden in seinem Land vor der Deportation rettete. Und über den Wipfeln der Alleebäume tummeln sich Elstern, Raben, Spechte, eine besonders blau leuchtende Spezies von Eichelhähern. Das kleine Bulgarien beherbergt, heißt es, 70 Prozent aller in Europa heimischen Vogelarten. Vielleicht haben die langen Dämmerungen damit zu tun.

Der Literaturwissenschaftler und Dichter Jan Röhnert, 1976 in Gera geboren, hat die vergangenen anderthalb Jahre als DAAD-Lektor an der Universität in Sofia verbracht. Im Hanser-Verlag erschien von ihm zuletzt der Lyrikband „Metropolen“.

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