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Bundespräsident: Die Bürger sollen ihn wählen

In der aktuellen Debatte um die Causa Wulff offenbart sich der Fehler im System: Es gibt einen krassen Gegensatz zwischen den Anforderungen an das Amt des Bundespräsidenten und der politischen Realität.

Angesichts der vielfältigen wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen brauchen wir einen konstruktiven Anstoß zu einer Veränderung unseres Denkens. Die kann nur von aufgeklärten, gut informierten Bürgern ausgehen, schreibt Daniel Barenboim, Generalmusikdirektor der Berliner Staatoper, in seinem Essay, in dem er auch die Rolle des Bundespräsidenten beleuchtet.

Im vergangenen Jahr konnte man überall in der Welt Unbehagen und Empörung bei der Zivilbevölkerung feststellen. Im Nahen Osten haben die Menschen ihre Unzufriedenheit eindrucksvoll zum Ausdruck gebracht, aber auch der Westen war Schauplatz von gewaltsamen wie friedlichen Protesten gegen aktuelle wirtschaftliche, soziale und politische Ungerechtigkeiten – man denke an Stuttgart 21, an London im Sommer oder auch an Rom im Herbst.

Wir befinden uns in einer globalen, systemischen und ideologischen Krise, die von Ungewissheit und Instabilität gekennzeichnet ist. Ich frage mich, ob es in diesem Klima der tiefen Besorgnis nicht an der Zeit ist, dass wir alle über einen neuen, verantwortungsbewussten Umgang mit der Gesellschaft nachdenken, in der wir leben. Wir müssen um ein zivilgesellschaftliches Gewissen bemüht sein, das sich der Probleme bewusst ist und dem einzelnen Bürger zugleich Vertrauen und Sicherheit einflößen kann.

Angesichts der vielfältigen wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen brauchen wir aus meiner Sicht einen konstruktiven Anstoß zu einer Veränderung unseres Denkens, die nur von aufgeklärten, gut informierten Bürgern ausgehen kann. Diesen muss eine Generation von Intellektuellen Pate stehen, deren Anliegen die gemeinsame Sache sein sollte – losgelöst von der Logik der Macht. Nur so kann eine Kultur der Ethik und der Verantwortung entstehen.

Der Literaturwissenschaftler Edward Said hat die Rolle der Intellektuellen genau beschrieben, als er sagte, sie hätten die Aufgabe, die Entwicklung der Freiheit und des Wissens der Menschen zu fördern. In einer seiner Vorlesungen von 2001 definierte Said den Standpunkt des Intellektuellen in Opposition zu den Regierungen, insbesondere, wenn es jenen an Glaubwürdigkeit, Konsens, Kultur und Problembewusstsein mangelt. „Der Intellektuelle hat nicht nur die Aufgabe, die Interessen eines Einzelnen zu vertreten, sondern er muss den gegenwärtigen Stand der Dinge begreifen und sich verantwortungsbewusst dazu äußern, auch wenn dies auf antagonistische Weise geschieht“, sagte Said.

Was das Amt des Bundespräsidenten angeht, gibt es einen grundlegenden Systemfehler.

Der Intellektuelle sollte also allem die Stirn bieten, was einem erzwungenen Schweigen oder stillschweigenden Übereinkommen gleichkommt und uns von den Machthabenden gern auferlegt wird. Er muss, so Said, einen aktiven Beitrag leisten und persönlich handeln. In diesem Sinne sollten die Intellektuellen als Bezugsgrößen für die übrige Gesellschaft dienen. Ich bin der festen Überzeugung, dass ihnen die Aufgabe zukommt, Veränderung anzuregen und voranzutreiben.

Das zivilgesellschaftliche Gewissen zu entwickeln und zu fördern, sollte auch eine der Hauptaufgaben des Staatsoberhaupts sein. Umso mehr wirft die aktuelle Krise um Person und Bedeutung des deutschen Bundespräsidenten die Frage auf, welche Anforderungen wir an das Amt und seinen Inhaber stellen und welche Funktionen dieser erfüllen soll.

In unseren modernen Gesellschaften existiert neben der mit politischen Aufgaben befassten Regierung in der Regel ja ein Staatsoberhaupt, das statt der direkten machtpolitischen Verantwortung eine moralische Autorität darstellt. Natürlich erhält ein Präsident seine Position nicht qua Geburtsrecht wie in der Vergangenheit ein Monarch, sondern wird in einem Prozess gewählt oder ernannt, der einer Demokratie würdig ist. In den parlamentarischen Monarchien Europas fiel die Trennung zwischen Staatsoberhaupt und Regierung institutionell oft deutlicher aus als in Deutschland, wo das Amt des Präsidenten seit jeher zu viel parteipolitische Relevanz besitzt. Will der Präsident seine Rolle als moralische Autorität erfüllen, darf dem nicht so sein.

Der Bundespräsident sollte nicht von Parteien nominiert werden, um deren Machtposition zu sichern, sondern vom Bürger selbst per Direktwahl bestimmt werden. Auch wenn zur Zeit großes Misstrauen in die Person des Bundespräsidenten herrscht, steht die Mehrheit dem Amt positiv gegenüber. Daraus folgt, dass der Bundespräsident kein Politiker sein muss, sondern eine Person mit hoher moralischer Glaubwürdigkeit. Also ein Intellektueller, ein Künstler oder Wissenschaftler, etwa vom Format eines Václav Havel, des kürzlich verstorbenen tschechischen Alt-Präsidenten. Natürlich kann auch ein Politiker diese Aufgabe erfüllen, wie die Beispiele Richard von Weizsäckers oder Giorgio Napoletanos zeigen. Wichtiger ist aber, dass es sich um jemanden handelt, der den moralischen und intellektuellen Anforderungen des Amts gewachsen ist.

In einer demokratischen Gesellschaft ist die Regierung für die Lebensqualität der Bürger mitverantwortlich. Wenn die Bürger unzufrieden sind, dürfen sie nicht darauf warten, dass die Politiker tätig werden. Politiker sind allzu oft mit der Frage beschäftigt, wie sie wiedergewählt werden. Und wir Bürger haben uns allzu abhängig gemacht von denen, die an der Macht sind. Mein Vater gab mir einmal einen wertvollen Rat: „Du hast Talent, vielleicht wirst du eines Tages berühmt. Vielleicht wirst du viel Geld verdienen, wer weiß. Aber es gibt etwas, das viel wichtiger ist als Ruhm und Geld, und das ist die Unabhängigkeit, die Unabhängigkeit des Denkens.“ Dieser väterliche Rat leitet mich in allen Dingen, die ich tue.

Ich wünsche mir eine neue Generation von Intellektuellen, die dem einzelnen Bürger hilft, die Grenzen dessen zu überschreiten, was allgemein akzeptiert und hingenommen wird. Und die der öffentlichen Meinung zu einem Verständnis für die aktuelle Lage verhilft und die Aufmerksamkeit auf das lenkt, was für das Gemeinwohl wirklich vonnöten ist.

Daniel Barenboim

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