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Stock, Hut, Entengang. Charlie Chaplin (1889 – 1977) in seiner Paraderolle.Foto: dpa

© picture alliance / dpa

Chaplin-Retrospektive im Babylon: Der große Zappler

Reich geworden mit dem Tramp: Stichworte zur großen Chaplin-Retrospektive im Babylon-Mitte

Letztes Jahr gab es in England einen bizarren Fall von Urheberrechtsverletzung. Ein zehnjähriges Londoner Mädchen hatte als Spendenaufruf für ein Kinderheim ein Video auf der Fundraising-Seite „JustGiving“ eingestellt, auf dem sie als Tramp verkleidet zu einem alten Chaplin-Song tanzt. Das brachte ihr die Abmahnung der derzeitigen New Yorker Inhaber der Musikrechte an dem Lied ein; die Aufmachung mit Bärtchen, Stock und Melone blieb dagegen ungeahndet. Dabei ist der Tramp selbst eine Marke. Doch die Bildrechteverwertung liegt bei der Chaplin-Familie. Deshalb darf das Filmchen weiterlaufen, alles andere wäre für die Erben wegen Chaplins Waisenhausvergangenheit nur peinlich.

Die Geschichte von Charlie Chaplin, seinen Figuren und Filmen ist bestens geeignet, aus der medialen Verwuselung der Bilder im Netz den Blick zurück auf die Anfänge der Filmkunst und des Filmgeschäfts zu richten. Es war eine wilde Zeit, in der feste Regeln fehlten und unternehmungslustige Schauspieler und Schrotthändler zu Pionieren wurden. Der junge Chaplin steht emblematisch für diese Epoche des Übergangs vom Vaudeville zu Hollywood. Schon mit sechs Jahren stand der Sohn zweier Music-Hall-Darsteller vertretungsweise für seine Mutter auf der Bühne und durchlief dann, bei allem privaten Elend, eine lange und solide handwerkliche Bühnenschule als Mitglied diverser Komödianten-Truppen. Als Mitglied von Fred Karnos Truppe bestieg er 1911 für eine Tournee erstmals den Dampfer Richtung USA, längst beherrschte er da die Tricks und Finessen der Bühnenkomik.

Das Filmgeschäft galt als Schmuddelbranche. Aber es brachte schon damals mehr Geld als beim Theater. Als Chaplin zwei Jahre später bei der von Mack Sennet frisch gegründeten Keystone-Company begann, verdiente er doppelt so viel wie bei Karno. Doch seine akrobatischen und mimischen Fähigkeiten konnte er bei den schnell geschnittenen Einaktern mit Verfolgungsjagden und Kloppereien noch nicht erfolgreich einsetzen.

Der Cockney-Junge war nicht nur ein begnadeter Nachahmer und Techniker, sondern auch, meist gemeinsam mit Bruder Sidney, ein gewiefter Geschäftsmann und Selbstvermarkter. So schaffte er es, in nur drei Jahren bis 1916 seine Gagen auf über 10 000 Dollar die Woche zu vertausendfachen und zum umjubelten Weltstar aufzusteigen. War der Vertrag mit der Keystone noch knapp formuliert, so umfassten die Vereinbarungen mit der Mutual 20 000 Worte. Und schon 1915 war eine Tante in England mit der Kontrolle der dortigen Tantiemen betraut worden.

Chaplin verschaffte sich zunehmend Kontrolle über die Produktionsbedingungen. Sein genialster Schachzug aber war die Etablierung einer Kunstfigur, des Tramps, über deren genaue Entstehung im Februar 1914 die unterschiedlichsten Geschichten kursieren. Klar ist nur: Erstmals zu sehen war Charlot in dem Film „Kids Auto Races at Venice“, der die Kulisse eines Seifenkistenrennens als Hintergrund für die pantomimischen Scherze des Kerls mit dem Stöckchen nutzte.

Schon bald verschwand der Schauspieler und Produzent Chaplin hinter seiner Kunstfigur. Charles hatte seine Rolle – bei aller eigenen Inspiration – aus diversen Bühnenfiguren seiner Laufbahn zusammengezaubert. Doch im Unterschied zum Vaudeville, wo das Abkupfern zum Handwerk gehörte, galten beim Film – schon wegen der besseren Kontrollmöglichkeiten – andere Gesetze. So gab es schon 1917 die ersten Klagen von Chaplin gegen Imitatoren, die er allesamt gewann.

Dass Chaplins Talent als Inszenator bei weitem nicht an seine Darstellungskünste heranreichte, ist bekannt. Wenn ab Freitag im Babylon-Mitte sein Gesamtwerk gezeigt wird, lässt sich sicher mit Genuss zum zehnten Mal „Goldrausch“ (Freitag zur Eröffnung) goutieren. Spannender aber dürfte das Studium der Anfänge sein. Dabei dominiert bei Chaplins frühen Leinwandcharakteren das Satyrisch-Bösartige, das in den Klassikern der United-Artists-Zeit nur noch als zarter Nebenton mitklingt. Neu belebt und mit Lebens- und Welterfahrung aufgeladen, kehren diese dämonischen Aspekte in den späten Filmen zurück, von „Monsieur Verdoux“ bis „A King“. Hier gibt der alternde Charlie Chaplin Charaktere, die zwischen Monstrosität und Zärtlichkeit oszillieren und dabei mit den ambivalenten Zügen der eigenen Persönlichkeit spielen. In einer Szene am Ende von „Monsieur Verdoux“ fällt er sogar in die zappelnde Gestik der frühen Zeiten zurück, als er in einem Ruderboot einen Mordversuch vertuschen will. In einer besonders düsteren Variante illustriert der Frauenmörder Verdoux auch die misogyne Gegenfigur zu den unbedarft süßen Mädels der Tramp-Filme.

Anlass der Retro mit Sommer-Event am Brandenburger Tor und einem knappen Dutzend Live-Konzerten ist der 80. Jahrestag von Chaplins zweitem Berlinbesuch zur damaligen PR-Tour für „City Lights“. Sämtliche 80 Chaplin-Filme werden in drei Wochen durch die Babylon- Säle gejagt – etwas für Marathonläufer. Auch heute noch ist der Tramp (nicht der Schauspieler Chaplin) weltweit eine der populärsten Ikonen. Trotzdem sei die Frage erlaubt, ob Chaplins nicht immer hochkarätige Musik live wirklich besser klingt, und das zu happigen Preisen. Die Open-Air-Vorstellung von „The Great Dictator“ auf dem Pariser Platz, ebenfalls am Freitag, gibt’s dafür umsonst. Stuhl mitbringen! Silvia Hallensleben

Eröffnung am 15. 7. mit „Gold Rush“, (19.30). Um 22 Uhr, Pariser Platz: „The Great Dictator“. www.babylonberlin.de

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