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Gegen den Irakkrieg von 2003. Joschka Fischer spricht vor seiner Partei, den Grünen.

© REUTERS

Charisma: Die Kraft der Rede

Auch Schurkenstaaten können große Redner haben: Der Germanist Karl-Heinz Göttert entzaubert den europäischen „Mythos Redemacht“.

Ein großer Komet rast auf die Erde zu und droht, die Zivilisation auf unserem Planeten in Gänze zu vernichten. Nur unter den größten technischen Anstrengungen der – zwischenzeitlich – befreundeten Supermächte USA und Russland kann in letzter Sekunde der Komet in kleinere Teile gesprengt werden, seine Bruchstücke richten immerhin noch einen halb-apokalyptischen Schaden an. Die Schlusseinstellung der Katastrophen-Schmonzette „Deep Impact“ von 1998 zeigt den Präsidenten, gemimt von Morgan Freeman, vor dem demolierten Kapitol beim Halten einer großen Rede, einer Art survival adress an das amerikanische Volk, stellvertretend für die Bevölkerung der Erde.

Wie Perikles einst in Athen, ehrt er die Hingeschiedenen, beschwört die Werte der (Welt-)gemeinschaft und ruft zum Ärmel-Hochkrempeln auf. Tausende stehen auf der national mall und lauschen voll des Stolzes des Überlebens und des Neubeginns. Sie trinken förmlich die Rede, sie saugen sie auf, – für die Zeit der Rede sind die schönen Worte des geläuterten Präsidenten die Zivilisation selbst.

Der Kölner Alt-Germanist Karl-Heinz Göttert, der schon mehrere anregende Bücher rund um das Thema Sprache fürs allgemeine Publikum vorgelegt hat, sah 2008 im Fernsehen die Berliner Wahlkampfrede von Barack Obama vor der Siegessäule und war begeistert. Nicht unbedingt von den Hoffnungen, die Obama nach den düsteren Bush-Jahren vermittelte, sondern vor allem von der Form der Rede und ihrer Inszenierung. Er fühlte sich an den Typus des „klassischen Redners“ erinnert, entgegen den „trübsinnigen Reflexionen über das Ende der Redekunst in der veränderten Medienwirklichkeit der Gegenwart“.

Nun hat Göttert eine 500-seitige tour d'horizon der europäischen Redekunst vorgelegt, um seine These zu illustrieren, dass die abendländische Redekunst eine 2500-jährige, ungebrochene Tradition darstellt und keineswegs, wie schon von Aristoteles und bis heute behauptet, der allgemeinen kulturellen Dekadenz unterworfen sei. Noch dazu eine Tradition, die in Aberhunderten von Abhandlungen über die Theorie der Rede und der rhetorischen Figuren reflektiert wurde und wird. Doch hier macht Göttert einen entscheidenden Schnitt, der auch der Lesbarkeit seines Kompendiums entgegenkommt. Nicht die unzähligen Rhetorik-Traktate von Quintilian bis zu Gert Uedings zehnbändigem Historischen Wörterbuch der Rhetorik oder den heutigen Manager- oder Politiker-Ratgebern stehen im Mittelpunkt, sondern die Gesamtheit der tatsächlich gehaltenen Reden.

Perikles und Richard von Weizsäcker, Cicero und Joschka Fischer

Wie Plutarch in seinen berühmten Doppelbiografien schaltet Göttert jeweils zwei Redner aus völlig unterschiedlichen Epochen zusammen, vergleicht sie, beleuchtet den historischen Kontext und vermittelt einen Eindruck von der Kunstfertigkeit oder den kalkulierten Regelverstößen der jeweiligen Reden. Es entstehen Paarungen, die nur auf den ersten Blick bizarr erscheinen mögen, aber in Götterts Analyse einen hohen Erkenntniswert gewinnen: Perikles und Richard von Weizsäcker, Cicero und Joschka Fischer oder Robespierre und Lasalle. Götterts Buch ist eine Art Reiseführer durch die überlieferten Redetexte, und man kann sagen, dass diese Reise durch zweieinhalb Jahrtausende Redekunst nie langweilig wird.

Dabei ist ein entscheidender Punkt, dass Göttert die Idee von der moralisierenden Kraft der Rhetorik von vornherein infrage stellt. Wenn Walter Jens noch in seinem berühmten Aufsatz „Von deutscher Rede“ selbstgewiss feststellte: „Herrscht das Volk, regiert die Rede; herrscht Despotismus, dann regiert der Trommelwirbel“ – dann wird im Durchgang durch Götterts Beispiele schnell klar, dass das eher ein Wunschtraum ehrenwerter Rhetorik-Theoretiker ist. Dass nur in „republikanischer Freiheit“ die gute Rede gedeihen kann, ist eine fromme Illusion der theoretischen Rhetoriker. So analysiert Göttert Hitler als begnadeten Rhetor, der es an rednerischer Kunstfertigkeit mit den Berühmtesten aus der Geschichte aufnehmen kann. Noch bis in die Vierzigerjahre stifteten vor allem diese übel-charismatischen Redeorgien das Zusammengehörigkeitsgefühl der Nazi-Deutschen. Rede ist interessegeleitet und autoritär. Charisma, die zweifelhafteste Komponente der Rhetorik, spielt meist eine entscheidende Rolle, und das Telos der öffentlichen Rede ist das Einnehmen des Publikums, der rhetorische Sieg, die Unterwerfung durch Rede. Reden halten Menschen wie Unmenschen. Und oft genug sind die einen von den anderen für die Zeitgenossen nur schwer zu trennen.

„Rationalität“, so Göttert, „stellt sich nicht von selbst ein. Sie muss vertreten werden. Und vertreten wird sie durch Redner.“ Dass der Sprache ein rationaler Kern innewohne, der gleichsam durch unsichtbare Hand einen „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ (Jürgen Habermas) hervorbringt – davon verabschiedet sich der Pragmatiker Göttert gleich zu Beginn seiner rhetorischen Exkursionen. Uns bleibt nichts übrig, als genau zuzuhören, wenn sich wieder einmal in einem öffentlichen Redeakt ein gesellschaftlicher Wille mit Emphase äußert.

Dabei hilft einem allerdings sehr, nicht nur die Theorien der Rede zu studieren, sondern den Reichtum der europäischen Redetradition, die selbst schon einen Mythos darstellt, wahrgenommen zu haben. Und dazu ist Götterts Buch wie kaum ein anderes geeignet. An wenigen Stellen verweist Göttert auf außereuropäische Konzepte von Rhetorik, zum Beispiel auf die Sprach- und Redeskepsis der taoistischen und buddhistischen Kulturen. In dieser Hinsicht wird die Neugier des Lesers leider kaum gestillt, und man hätte wohl einen noch konturierteren Begriff vom europäischen „Mythos Redemacht“ gewinnen können, wenn Göttert hier einen weiteren seiner aufschlussreichen Exkurse eingefügt hätte.

Karl-Heinz Göttert: Mythos Redemacht. Eine andere Geschichte der Rhetorik. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2015. 510 Seiten, 24,99 €.

Marius Meller

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