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Charles Lloyd (r.) und Pianist Jason Moran.

© ECM

Charles Lloyd: Im Rausch der Töne

Der Jazz-Saxofonist Charles Lloyd veröffentlicht zu seinem 75. Geburtstag ein grandioses Album - und setzt damit seiner Ur-Ur-Großmutter ein Denkmal. Sie war eine Sklavin.

Wenn Töne helfen können, wenn Musik mehr ist als eine Art von akustischem Wandgemälde, als ein soziales Schmiermittel in prekären Zonen des menschlichen Miteinander, dann ist Charles Lloyd der richtige Mann, um ihre Dimensionen auszutesten. Ein Jünger der Melodie. Einer, der sich in einzelnen Tönen festhakt, der ihre Konturen ausmalt, die Oberflächen fein ziseliert und deutlich macht, dass er für seine Musik nur höchste Maßstäbe gelten lässt.

„Die universelle Mutter hat mich zur Musik gebracht“, sagt der Saxofonist, der am 15. März seinen 75. Geburtstag feiert. „Musik ist meine Rettung, und ich spüre noch immer diese Freude, dieses erhabene Gefühl, das ich hatte, als ich der Musik zum ersten Mal begegnete.“ Kürzlich hat Lloyd ein neues Album vorgelegt, „Hagar’s Song“, ein Duo-Album mit dem Pianisten Jason Moran, das den ganzen Kosmos von Lloyds Musik herbeizitiert. Im Mittelpunkt steht eine fünfteilige Suite, mit der Lloyd seiner Ur-Ur-Großmutter ein Denkmal setzt.

Sie wuchs als Sklavin auf, wurde mit zehn Jahren von ihrer Familie getrennt und flussaufwärts verkauft, mit 14 vom neuen Besitzer geschwängert. Gerahmt wird die Suite von sieben weiteren Kompositionen vom musikalischen Hausaltar des Saxofonisten, Jazzpretiosen von Billy Strayhorn und Duke Ellington, sowie zwei programmatisch zu verstehenden Perlen der amerikanischen Popmusik: „I Shall be Released“ von Bob Dylan und „God Only Knows“ von den Beach Boys, dessen elegante Schwermut wie geschaffen ist für die samtige Wärme von Lloyds Saxofonspiel.

Lloyd stammt aus Memphis, Tennessee, er sagt: „Ich war immer allein, und ich lebte im Süden. Aber die universelle Mutter hat mir diese Liebe für die Musik gegeben, die mir Flügel wachsen ließ, damit mir all dieses Chaos und die Verrücktheit dieser Welt nichts anhaben konnten.“ Mit neun Jahren begann er Saxofon zu spielen, bald bekam er erste professionelle Jobs in Bluesbands. Lloyd war jung, sehr jung, und was er mit den Bluesmusikern erlebte, war verstörend. „Howlin’ Wolf konnte ein ganzes Schulhaus ins Schwanken bringen. Da war echte Magie, davon konnten diese Rolling-Stones-Jungs nur träumen.“ In den weißen Roadhouses, den Tanzschuppen jenseits der Stadt, wo Lloyd manchmal spielte, versuchten junge Kids wie Elvis Presley etwas aufzuschnappen, etwas zu lernen. „Einmal kam eine Frau auf die Bühne und zog B. B. King die Hose herunter. Zum Glück hatte er eine tolle gepunktete Unterhose an.“

Anfang der sechziger Jahre übernahm Lloyd die musikalische Leitung von Chico Hamiltons Band, spielte später bei Cannonball Adderley. Irgendwann gründete Lloyd dann seine eigene Band, in der sich Musiker wie Keith Jarrett oder Jack DeJohnette dem Publikum vorstellten. Mit dieser Band schuf er eine Musik, die mühelos die Gräben zwischen dem immer freier werdenden Jazz und den polytoxikomanen Experimenten von Westküsten-Hippiebands wie den Grateful Dead oder Jefferson Airplane und dem Blues von Jimi Hendrix überbrückte. Die zweite LP der Band, das Live-Album „Forest Flower“, wurde zum Megahit mit Verkaufszahlen im Millionenbereich. Lloyd war ein Star, doch zufrieden war er nicht. Drogenprobleme kamen hinzu.

„Ich begann, unter diesem Leben zu leiden, und merkte, dass auch meine Musik litt. Von meinem Ziel, die Welt durch die Schönheit der Musik ein Stück weit zu verbessern, hatte ich mich entfernt. Ich musste also einen Schnitt machen. Entgiften.“ Auf dem Gipfel seines kommerziellen Erfolgs zog sich Lloyd in sein Haus bei Big Sur zurück, wo der Pazifik an die Küste schlägt, verzichtete auf Drogen, Alkohol, Fleisch und ließ sich in der Kunst der transzendentalen Meditation unterrichten. „Ich wollte sehen, was aus dem kleinen, einsamen Jungen in mir geworden ist.“ Im Jazz war seine Stimme verstummt. Das änderte sich, als eines Tages ein kleinwüchsiger Pianist mit Glasknochenkrankheit an seine Tür klopfte: der Pianist Michel Petrucciani. Lloyd spürte die Begabung des Pianisten und fand ein Ziel, das dem kleinen, einsamen Jungen gefallen würde. Um Petrucciani zu Bekanntheit zu verhelfen, ließ sich Lloyd dazu bewegen wieder aufzutreten.

Ende der achtziger Jahre stellte der Saxofonist seine Musik wieder ins Zentrum seiner Aktivitäten. Seit einigen Jahren hat sich ein Quartett um den Pianisten Jason Moran, Schlagzeuger Eric Harland und den Bassisten Reuben Roger als neues Zentralgestirn seiner Musik herauskristallisiert. Im Austausch mit den jüngeren Musikern, die allesamt noch nicht geboren waren, als Lloyd ins kalifornische Big Sur gezogen war, kann er alle Register seiner hymnisch gepolten Musikalität ziehen. „Ich bin immer noch besoffen von der Musik und versuche einen Weg zu finden, mit meiner Musik zum Innersten des Inneren vorzudringen, zur Seele der Seele. Ich spiele immer noch für die universelle Mutter, die manche Leute auch ‚Gott’ nennen.“ Man muss ihn sich als einen glücklichen Menschen vorstellen.

Das Album „Hagars’ Song“ von Charles Lloyd und Jason Moran ist bei ECM erschienen. Dort kommt zu Lloyds 75. Geburtstag auch die 5-CD-Box „Quartets“ heraus, mit den Alben „Fish Out Of Water“, „Notes From Big Sur“, „The Call“, „All My Relations“ und „Canto“.

Stephan Hentz

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