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CHINA Kracher (6): Masse und Macht

Noch 11 Tage bis Olympia. Müh-Ling trainiert heute: Radfahren.

Man sagt gerne, China stehe mit einem Bein im 19. und mit dem anderen im 21. Jahrhundert. An vielerlei lässt sich diese Spagatmetapher festmachen: verwitterte Ziegeldächer neben funkelnden Wolkenkratzern, Pferdekarren, turmhoch beladen mit Flachbildfernsehern, KFC und Konfuzius, Marx und McDonald’s.

Nicht fehlen dürfen in solchen Aufzählungen die omnipräsenten Fahrräder, die gerne in Kontrast zum Transrapid in Schanghai gesetzt werden, dem schnellsten Personenzug der Welt. Vollkommen ungerechtfertigt wird das Fahrrad in solchen Bildern zur Rücktrittbremse der chinesischen Modernisierung stilisiert – obwohl es das chinesischste aller Verkehrsmittel war, ist und bleibt. China steht auf Pedalen. Mit beiden Beinen.

Wie sonst wäre zu erklären, dass in der explodierenden Irrsinnsmetropole Peking jeder noch so verschlungene Verkehrsknoten penibelst mit Fahrradspuren ausgestattet wird? Mehrere Meter breit schlängeln sich diese Pfade durch Tunnel unter Straßenkreuzungen hindurch, auf Stelzen über Autobahnen hinweg, nicht selten auch quer durch den Pkw-Strom hindurch. Da komme ich nie rüber, denkt der Ausländer, wenn er zum ersten Mal mit dem Rad vor einer zehnspurigen Trasse steht, deren andere Seite nur verschwommen hinter Lkw-Kolonnen und Smogwolken zu erahnen ist.

Durch aber kommt man immer – solange man ein paar simple Grundregeln beachtet, die der fahrradfahrende Chinese den soziopolitischen Verkehrsregeln seines Landes entlehnt. Mit dem Strom schwimmen, lautet die erste dieser Devisen. Mag beim ersten Hinsehen der Eindruck entstehen, im heutigen China komme nur voran, wer sich möglichst rücksichtslos durchdrängelt, so entlarvt genaueres Hinsehen diese Strategie als grundverkehrt. Wer voranprescht, begibt sich in Gefahr. Gleiches gilt für den, der zurückbleibt. Der kluge Radler schmiegt sich in den Strom. Stetig sei das Auf und Ab seiner Pedale, nie bremse er ruckartig, auch meide er hektische Sprints. Nur wer sich treiben lässt im weisen Mittelmaß der Zweiradkarawane, den wird sie sicher ans Ziel geleiten.

Zweite Regel: Die Regierung steht über dem Gesetz. Der Radfahrer poche nicht auf schriftlich verbürgte Rechte, wo ihnen mündliche Anordnungen von Autoritätspersonen entgegenstehen. Wenn die Fahrradampel rot ist, der Verkehrslotse aber zur Weiterfahrt drängt, so ist dem Folge zu leisten, alles andere wäre lebensgefährlich. Die Ampel ist dumm, sie kennt nur Rot und Grün – dem Menschen aber ist kein Grauton fremd. Gerade für Ausländer sind die omnipräsenten Lotsen mit ihren knallroten Chinaflaggen eine nützliche Orientierungshilfe. Wer gedankenlos auf eine grüne Ampel zurollt, weil er das von zu Hause nun mal so gewohnt ist, bekommt umgehend die Flagge gezeigt – und weiß sofort, wo er sich befindet: rot, China, stopp, nicht Rechtsstaat, sondern Volksrepublik.

Dritte Regel: Die Vorfahrt gehört der Masse. Wer links abbiegen will und dazu eine mehrspurige Autotrasse queren muss, der suche sich Gleichgesinnte. Erst, wenn sich eine kritische Masse von Linksabbiegern versammelt hat, wird die Kreuzung eingenommen, Reifenbreite für Reifenbreite, Pedal um Pedal. Durch ein wütend brandendes Meer aus Blech bahnt sich dann die Zweiradkolonne unaufhaltsam ihren Weg, und wer Teil eines solchen Triumphzuges ist, wer innerlich jubelnd dem Fluchen der Kraftfahrer lauscht, der spürt ein unbeschreibliches Glücksgefühl in sich aufsteigen: die Macht der Masse. Wir könnten jetzt, sagt dieses Gefühl, immer so weiterrollen, und nichts kann uns stoppen. Die geballten Streitkräfte der Nato, gegen 1,3 Milliarden fahrradfahrende Chinesen wären sie machtlos.

Noch 11 Tage bis Olympia. Müh-Ling

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