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Stamm und Baum. David Chipperfield inmitten seiner Installation in der Neuen Nationalgalerie mit 141 Fichtenstämmen.

© Reuters

Chipperfield im Interview: „Das Kulturforum ist gar nicht so übel“

Der britische Star-Architekt David Chipperfield über die Sanierung der Neuen Nationalgalerie und seine Ideen zur Berliner Stadtplanung

Mr. Chipperfield, mit „Sticks and Stones“, der Präsentation von 141 Baumstämmen in der Halle des Mies-van-der-Rohe-Baus, antworten Sie auf die Architektur mit einem Naturbild. Wie kamen Sie darauf?

Ich sollte eine Ausstellung über meine Arbeit machen, aber wenn ich Modelle, Zeichnungen, Pläne gezeigt hätte, wäre es ein Kampf gegen die Halle gewesen. Die Neue Nationalgalerie ist eines der bedeutendsten Gebäude des 20. Jahrhunderts. Man muss mit dem Raum, mit Mies sprechen und nicht etwas anderes hineinbringen. Die einzige Chance besteht darin, sich zurückzunehmen und darin provokant zu sein. Wir kamen auf die Idee mit den Säulen als intensivster und autonomer Moment der Architektur. Die Säule ist das einzige Architekturelement, das für sich selbst stehen kann: sowohl in ihrer Bedeutung als auch als Bauteil. Säulen tragen in sich die ganze Architektur: Struktur, Sprache, Raum. Wir haben verschiedene Möglichkeiten durchgespielt, sind aber am Ende bei den Baumstämmen geblieben. Es ist eine Provokation für das Museum – und eine Antwort auf den Raum.

„Sticks and Stones“ als Titel klingt vor diesem Hintergrund spielerisch, wie ein Kindervers. Wollten Sie das Pathos dämpfen?
Der Titel bringt eine weitere Bedeutung hinein. Es gibt grundsätzlich zwei Architekturen: eine, die aus Stein gemacht ist, und eine, die aus Stöcken, also Bäumen besteht. Bei der einen werden die Steine aufeinander geschichtet, um eine Mauer zu bauen, bei der anderen Dinge miteinander verbunden. Die Neue Nationalgalerie vereint beide Prinzipien: Sie ist zugleich eine Höhle aus Stein und ein Tempel aus Stöcken. Das englische Kinderlied „Sticks and Stones / may brake my bones / but words will never hurt me“ erinnert daran, worum es in der Architektur geht: die physischen Kräfte sind stärker als die virtuellen, abstrakten. Wir Architekten benutzen keine Worte oder Metaphern, wir benutzen physische Dinge. Doch diese Qualität hat die Architektur heute vielfach verloren, sie wird von zu vielen anderen Dingen absorbiert.

Zugleich ist die Installation als Kommentar auf das Kulturforum zu verstehen: grundsätzlich darüber nachzudenken. Ist das überhaupt möglich?
Hier überschneiden sich viele Probleme. Ein Thema ist die Gemäldegalerie – ob sie zur Museumsinsel umziehen soll oder nicht. Auf lange Sicht wird es so kommen, am Kulturforum bleibt die Sammlung Alter Meister zu sehr verborgen. Nur kann ein Umzug nicht sofort geschehen: das Pergamonmuseum wird restauriert, die Nationalgalerie ist geschlossen, ebenso die Oper. Die Gemäldegalerie könnte in Zukunft für die Moderne genutzt werden, nur nicht im jetzigen Zustand, die Räume sind dafür nicht gemacht. Das andere Problem ist die urbane Situation des Kulturforums, das ich gar nicht so übel finde wie alle anderen. Es war nie als Stadtraum des 19. Jahrhunderts geplant, sondern als moderner Ort gedacht. Es würde reichen, den Parkplatz zu entfernen und den Verkehr zu reduzieren. Man könnte den Raum zwischen den Gebäuden verbessern, es muss gar nichts neu gebaut werden.

Die Neue Nationalgalerie braucht dringend mehr Platz für die Moderne. Was würden Sie empfehlen: einen Anbau oder ein weiteres Haus an der Potsdamer Straße?
Alle meinen, es müsste ein Neubau in der Mitte des Platzes sein. Aber wie soll das gehen: Hängt man dann einen Teil hierhin und den anderen dorthin? Ich halte einen Anbau hinter der Nationalgalerie für die beste Lösung.

Haben Sie schon Entwürfe gemacht?
Natürlich, wie jeder andere Architekt in Berlin auch. Das ist eines der Hobbys von Berliner Architekten: Wir schauen uns den Alexanderplatz an, das Kulturforum, das Schloss und reden über das nächste große Ding.

Sie haben die Diskussion um Berlins Architektur „the Berlin city soap opera“ genannt. Welche Rolle spielt darin die Neue Nationalgalerie?
Sie ist eine stabile Figur, die bleibt. Die Story müsste um sie herum entwickelt werden, Mies kann man nicht verschieben. Das gilt für die gesamte Debatte: Man muss sich klar darüber werden, worin man übereinstimmt, und dann über den Raum zwischen den soliden Körpern diskutieren. Man kann nicht immer alles neu denken. Im Moment ist zu viel in Bewegung. Warum ein neues Museum bauen, wenn nur eine Erweiterung gebraucht wird? Es gäbe auf dem Platz noch genug zu tun, allein was die Grünanlage betrifft.

Als Architekt denken Sie über die Stadt als Ganzes nach, als soziales Gefüge. Warum ist Stadtplanung heute so schwer? Fehlen die Perspektiven? Gilt nur noch der ökonomische Aspekt?
Ich glaube nicht, dass es uns an Phantasie fehlt. Wir haben eher den Ehrgeiz verloren. Und wir haben uns von einer kollektiven hin zu einer individuellen Gesellschaft verändert. Die Investoren bestimmen. Die großen infrastrukturellen Veränderungen haben sich aus dem öffentlichen in den privaten Sektor verschoben – in Deutschland weniger als in den angelsächsische Ländern. Dort gibt es keine Entwicklung ohne Investment.

Sie unterhalten Büros ins London und Berlin. Wie erleben sie den Unterschied?
London wird gerade neu entworfen, ohne Plan, sondern nur mit Geld, durch Investment, das schwer zu lenken ist. Was für eine Tragödie: In London wird mehr denn je gebaut, aber es ist eine Ansammlung einzelner Gebäude, Bürotürme, weil sich die Investoren nicht absprechen. Wer die Macht hat, baut eben. Es gibt keine Stadtregierung, die eingreifen könnte. Berlin besitzt ein solches Instrument und kann seine Stadtstruktur definieren und die Investoren dirigieren. Das Paradox besteht darin, dass Berlin eine Stadtplanung verfolgt, aber keine Investoren hat. In London ist es genau umgekehrt. Als Grund dafür wird angeführt, dass Reglementierungen gegen den freien Markt verstoßen würden.

Was schlagen Sie vor?
Da wir uns alle auf dem freien Markt befinden, sollten wir den Mut besitzen, in die nächste Phase einzusteigen und einen dirigierten freien Markt anstreben. Die Fundamentalisten erwidern dann zwar immer, dass dies die Investoren frustrieren würde und sie abwandern, aber wenn das alle machen, gibt es keine anderen Orte mehr. Wenn sie in London nicht investieren, wo dann: in Wien etwa? Seien wir doch ehrlich: Wir intervenieren doch schon die ganze Zeit, indem etwa Straßen gebaut werden. Die großen Bewegungen der Gesellschaft geschehen koordiniert. Wir müssen urbanistisch vermitteln zwischen Investment und kollektiver Gesellschaft. Die Stadt sieht sonst so aus, wie es dem Markt gefällt.

Man hat Sie als Darling der Deutschen bezeichnet, weil sie in Deutschland so viel realisiert haben: den Wiederaufbau des Neuen Museums, die James-Simon-Galerie auf der Museumsinsel, der Erweiterungsbau für das Essener Folkwang-Museum, das Literatur-Museum in Marbach. Warum verstehen Sie sich so gut auf die deutsche Bautradition?
Die Erfahrung mit dem Neuen Museum hat uns nahe ans Herz von Berlin gebracht, vielleicht das Herz Deutschlands. In der angelsächsischen Kultur dominieren Investment und Individualismus. Ich mag, wie die Deutschen sich mit einem Gebäude identifizieren, wie ernst sie Veränderungen nehmen. Hier wird mehr über Haltungen gesprochen, mehr darüber nachgedacht, was die Dinge an sich bedeuten. In der angelsächsischen Welt gibt es nur ein Maß: Erfolg und Geld. Vielleicht sind die Deutschen sogar zu theoretisch, zu intellektuell. Stets wird darüber reflektiert, was die Dinge bedeuten, egal ob es um Kernkraft oder den Kriegseintritt geht. Das Neue Museum hat uns viel gelehrt, es war wie eine Reise. Es wäre einfach gewesen, es zu rekonstruieren. Wir haben es uns schwer gemacht und bestimmte Fragen gestellt. Aber am Ende entstand daraus ein Dialog. Das war eine zwölfjährige Erfahrung, mein deutsches Training.

Rechnen Sie auch bei der Neuen Nationalgalerie mit Auseinandersetzungen um die Sanierung?
Nein, wir versuchen alles verborgen zu halten. Hier müssen wir technische Probleme lösen, die allerdings enorm sind, zum Beispiel die Feuchtigkeit, die gebrochenen Gläser, die Eigenbewegung des Gebäudes. Hier zählt jeder Zentimeter, die Details bestimmen das Gebäude. In einem 19. Jahrhundert-Bau ist es leichter, Installationen zusätzlich unterzubringen, da gibt es Tricks. Aber bei Mies würden wir die Proportionen ändern. Die Herausforderung besteht darin, die Integrität des Gebäudes nicht anzutasten.

Der größte Erfolg wäre also, dass Ihre Arbeit nicht zu sehen sein wird?
Ja, aber sie dient einer Ikone des 20. Jahrhunderts, einem Monument von Berlin – und das ist kein ganz so großes Opfer.

Das Interview führte Nicola Kuhn.

ZUR PERSON

David Chipperfield, 1953 in London geboren, gehört zu den weltweit bedeutendsten Architekten. Mit Deutschland verbindet ihn eine lange Beziehung, seit er das kriegszerstörte Neue Museum sanierte. Für seinen sensiblen und mutigen Zugriff erhielt er höchste Auszeichnungen und den Auftrag, das Eingangsgebäude der Museumsinsel zu bauen, die James-Simon-Galerie. In Berlin hat er außerdem einen Galeriebau gegenüber der Museumsinsel geplant. Gegen wärtig arbeitet er an der Umgestaltung des 24 0 000 Quadratmeter großen Geländes der Bötzow-Brauerei in Prenzlauer Berg, ebenso entsteht ein Luxus-Haus in der Französischen Straße. Für die Berliner Dependance seines Büros in Berlin baute er in Mitte ein Gebäude samt Kantine und Privatwohnung, Chipperfields Zweitwohnsitz neben London. Der Architekt wird ab Ende 2014 drei Jahre lang die Neue Nationalgalerie sanieren. Zurzeit ist dort seine Installation Sticks und Stones zu sehen (Potsdamer Str. 50, Katalog 48 €).

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