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Kultur: Chor der tatenlosen Mittäter Didier Decoin untersucht den Fall Kitty Genovese

Am 11. März 2008 stellte Winston Moseley, der während seiner Haft mehrere Universitätsabschlüsse gemacht hatte, zum dreizehnten Mal das Gesuch, freigelassen zu werden.

Am 11. März 2008 stellte Winston Moseley, der während seiner Haft mehrere Universitätsabschlüsse gemacht hatte, zum dreizehnten Mal das Gesuch, freigelassen zu werden. Zum dreizehnten Mal wurde es abgelehnt, denn auf die Frage, ob er die Abscheulichkeit seiner Tat von vor über vierzig Jahren einsehe, räumte er lediglich ein, der Familie Genovese möglicherweise „Unannehmlichkeiten“ bereitet zu haben. So bezeichnete er die Vergewaltigung und Abschlachtung von Kitty Genovese, 28 Jahre alt, „dunkelhaarig und gutgelaunt“. War das schon fast unvorstellbar kaltblütig – Didier Decoin lässt in seiner literarischen Nachstellung kaum eine Bestialität aus –, so wurde die Öffentlichkeit noch mehr durch die Begleitumstände erschüttert: 38 Menschen sollen unmittelbar Zeugen geworden sein, ohne dem Opfer beizustehen oder die Polizei zu rufen. Und das in Kew Gardens, einem damals kleinbürgerlichen Viertel in New York, 16 Zugminuten von der Penn Station entfernt.

Was am 13. März 1964 geschah, ging in Lehrbücher als Bystander-Effekt oder Kitty-Genovese-Syndrom ein. Der Fall gehört inzwischen in die urbane Mythologie, nicht nur, weil es eine stattliche Zahl von Büchern darüber gibt und die New Yorker Presse bis heute regelmäßig daran erinnert, sondern auch, weil einiges wohl doch nicht so war wie überliefert. So sollen es nicht 38, sondern „nur“ 12 Personen gewesen sein, die das Geschehen wahrnahmen und nicht einschritten. Ein paar Monate nach Mosleys vergeblichem Entlassungsgesuch kam es übrigens zwanzig Minuten von Kew Gardens entfernt, das heute ein reizvolles und schmuckes Quartier sein soll, zu einem ähnlichen Fall, notiert Decoin im Nachwort.

Der Autor, Jahrgang 1945, hat mehr als ein Dutzend Romane und ebenso viele Drehbücher, unter anderem zu „Jakob der Lügner“ oder „Les Misérables“ geschrieben. Sein Buch zum Fall Genovese wurde 2009 in Frankreich als Truman Capotes „Kaltblütig“ ebenbürtig gefeiert. Es nennt sich Roman, ist aber eher eine Kreuzung aus Sachbuch und Filmtreatment. Sieht man von einigen Merkwürdigkeiten ab, etwa der, dass der Ich-Erzähler, damals ein Schriftsteller aus der näheren Nachbarschaft, heute weit über ein biblisches Alters hinaus sein müsste, dann liest man ein hochspannendes und zugleich tief nachdenkliches Werk, das die aus vielen Kleinigkeiten bestehende Ungeheuerlichkeit nüchtern, aber mit geradezu filmischer Intensität wiedergibt. Mit Gespür für die Details, aus denen sich unser Bild eines Geschehens als „realistisch“ oder „authentisch“ zusammensetzt, zugleich immer wieder in reflexiven Unterbrechungen, werden Opfer wie Täter plastisch, während die tatenlosen Mittäter in ihren meist mickrigen Einlassungen als Chor erscheinen.

Die Frage des „Wie konnte das geschehen“, die hier weniger die Tat selbst als deren Publikum in seinen Fensterlogen adressiert, findet allenfalls in der Bemerkung der Frau des Ich-Erzählers eine resignierte Antwort: dass man nämlich „aus dieser Feigheit und Gleichgültigkeit“ auch im Jenseits „immer noch nicht schlauer werden“ werde: „Sie sind ein Teil von uns, weiter nichts.“ Aber vielleicht gibt es ja zwischen der unglaublichen Kälte des Täters, der seine Lust nur an sterbenden Frauen befriedigen konnte, und der Kälte, mit der die Zuschauer im schlimmsten Sinne nichts taten, eine Gemeinsamkeit?

Die Tat- und Nichthandelnszeit war ja nicht nur die, zu der JFK ermordet wurde, es in Harlem Rassenkrawalle gab und die Verbrechensrate dramatisch anstieg. Es ist auch die, in der die Kult-Serie „Mad Men“ spielt. Die Werber von der New Yorker Madison Avenue bewegen sich nicht nur in einer zu äußerster Künstlichkeit komprimierten Medien- und Modewelt, sondern tragen unablässig ihre zynische Coolness zur Schau, nach der etwa Liebe nur eine Erfindung sei, um Nylonstrümpfe zu verkaufen. Diese Fassade, ahnen wir bald, verdeckt mehr noch als die Stupidität der Suburbs, die Kreditsorgen und Ehedesaster einen Verlust an Sinn, in dem selbst der Hass, gleich ob auf sich selbst oder die Welt, kalt und mechanisch, ja stumpfsinnig geworden ist.

Didier Decoin:

Der Tod der Kitty

Genovese. Roman. Aus dem Französischen von Bettina Bach. Arche Verlag, Hamburg 2011.

160 Seiten, 19, 90 €.

Erhard Schütz

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