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Dercon, allein zuhaus? Chris Dercon, neuer Intendant der Berliner Volksbühne, nach der Vorstellung seines Programms auf dem Flughafen Tempelhof.

© dpa/Jörg Carstensen

Chris Dercon stellt sein Programm vor: Abflug für die Volksbühne 2017/18

D-Day in Tempelhof: Chris Dercon präsentiert seine erste Volksbühnen-Saison. Beckett, Boris Charmatz, Susanne Kennedy - Dercons Team verspricht ein Stadttheater ohne Grenzen.

Eine Pressekonferenz ist eine Performance. Und das muss jetzt sitzen. Nie zuvor wurde ein designierter Theaterleiter derart angefeindet wie Chris Dercon, der Krach um die Volksbühne zog weite Kreis. Das gibt es nur in Berlin: Ästhetik und Theatergeschichte entwickelten sich zum Politikum. Auch nach dem Auftritt des Frank-Castorf-Nachfolgers vor dem medialen Publikum wird die Diskussion weitergehen, nicht zuletzt wegen des Räuberrads auf dem Rosa-Luxemburg-Platz. Um dessen Zukunft gibt es bereits juristische Auseinandersetzungen.

D-Day in Tempelhof. Dercon und sein Team haben am Dienstagmittag im ehemaligen Flughafenrestaursant ihre Pläne vorgestellt. Zuvor sprach Dercon auf einer Personalversammlung der Volksbühne. Da lief es ruhig, wie man hört, ohne Störung. Seinen Kritikern ruft er auf der Pressekonferenz zu: „Sie haben in den letzten zwei Jahren so viel über mich geschrieben. Sie kennen mich besser als ich mich selbst. Aber jetzt geht es nicht mehr um mich. Wir können endlich über Kunst reden.“ Dercon räumt Fehler ein. Er habe die Gemengelage, die Stimmungen in der Stadt falsch eingeschätzt. Nun aber: „Sie müssen uns die Chance geben, dass wir unsere Arbeit machen.“

Zum Auftakt gibt's vier Wochen Premieren in Tempelhof

Erste Neuigkeit: Die Volksbühne heißt künftig Volksbühne Berlin. So neu ist das nicht, bisher hieß sie Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz oder im Internet volksbuehne-berlin.de. Zweite Neuigkeit: Die erste Dercon-Saison beginnt am 10. September und wie bereits angekündigt auf dem Gelände des ehemaligen Flughafens. Ganz Berlin ist zum Tanz geladen. Es ist der Auftakt zu einer vierwöchigen Premierenserie. Auf dem Programm stehen „A Dancer’s Day” (ab 14. September) und „Danse de nuit“ (ab 21. September) von Boris Charmatz sowie „Musée de la danse“. Charmatz gehört wie die Choreografin Mette Ingvardsen – sie greift im Dezember am Rosa-Luxemburg-Platz in das Geschehen ein – zum engeren Team der internationalen Volksbühne. Der Tanz übernimmt eine führende Rolle.

Francis Keré wird in Tempelhof tatsächlich ein mobiles Theater aufbauen

Chris Dercon sagt: „Ich wünsche mir die Volksbühne als einen öffentlichen, durchlässigen Ort, der Raum lässt für ganz verschiedene Formen von darstellender Kunst, wo Disziplinen aufeinander reagieren und interagieren können. Ein Stadttheater ohne Grenzen“. Seine Programmdirektorin Marietta Piekenbrock ergänzt: „Was unser Spielplan versammelt, ist das, was wir lieben, wovon wir träumen, was uns befremdet, was uns magisch anzieht, was wir mit Begriffen nicht zu fassen kriegen, was uns wichtig ist und was wir für wichtig halten.“ Piekenbrock kann die Anspannung nicht verbergen. Sie schwankt zwischen Kuratorensätzen, akademischer Betrachtung und hoher Emotion. Dercon spielt es mit Routine und Charme und seinem, wie er es nennt, „positives belgisches Akzent.“

Sie setzen auf Geschichte und Berliner Symbolik. In Tempelhof wird Francis Kéré ein mobiles Theater aufbauen. Der syrische Schriftsteller Mohammad Al Attar bereitet dort die Uraufführung seiner „Iphigenie“ nach Euripides vor, mit einem Chor syrischer Frauen. In Tempelhof leben Flüchtlinge. Der Ort ist heikel und anziehend zugleich für Künstler. Die britischen Rapperin Kate Tempest gibt mit ihrer Band im Hangar 5 ein Konzert: „Let Them Eat Chaos” (6. Oktober).

Chris Dercon (r), mit seinem Team bei der Vorstellung des Volksbühnen-Programms am Dienstag am Tempelhofer Flughafen.
Chris Dercon (r), mit seinem Team bei der Vorstellung des Volksbühnen-Programms am Dienstag am Tempelhofer Flughafen.

© dpa/Jörg Carstensen

Das könnte auch eine Biennale sein: Am Rosa-Luxemburg-Platz beginnt die neue Zeit am 10. November mit Einaktern von Samuel Beckett, zusammen mit Arbeiten von Tino Sehgal, dem Spezialisten für Luftnummern. Es soll eine Reflexion über Theater, Kunst und Sprache sein, das gesamte Haus wird bespielt. Und dann noch einmal Beckett, drei kurze Stückchen: „Nicht Ich/Tritte/He, Joe“, inszeniert von Becketts langjährigem Mitarbeiter Walter Asmus. Es spielt Morten Grunwald, den man von der „Olsenbande“ aus dem Fernsehen kennen. Darauf folgen Susanne Kennedys „Women in Trouble“. Im Dezember wird der Filmemacher Apichatpong Weerasethakul mit einem Schlafprojekt am Rosa-Luxemburg-Platz gastieren.

Dercons Volksbühne wirkt – bei aller Vorsicht, es hat noch nicht begonnen – wie ein Pool für die jungen Kreativen, die Berlin ohnehin anzieht. Hier verdichtet sich dieses ephemere Stadtverständnis zum Programm. Da werden am laufenden Band neue Formate erfunden und vernetzt und überhaupt. Aber das ist nur die eine Seite. Auf der anderen fällt auf, wie sehr das nahezu klassische Erbe der Moderne gepflegt werden soll. Michael Schmidt war ein Fotograf aus West-Berlin, Einar Schleef einer der größten Theaterkünstler aus der DDR, der später im Westen arbeitete. Ihr gemeinsames Projekt „Waffenruhe“ aus dem Jahr 1987 will nun die Volksbühne realisieren – im Winter 2018 wird das Volksbühnengebäude dabei zu einer riesigen Projektionsfläche. Ideologisch ist sie das sowieso.

Von 227 Volksbühnen-Mitarbeitern bleiben 206

In derart flüchtigen, zerrissenen Zeiten versucht Marietta Piekenbrock die flüchtigste aller Künste, die Bühnenkunst, festzuhalten. So wie es Museen mit ihren Sammlungen tun. Darin steckt die kluge Erkenntnis, dass es nicht permanent etwas Neues geben kann. Dercon wollte Inszenierungen von Frank Castorf, René Pollesch, Christoph Marthaler und Herbert Fritsch übernehmen. Die Regisseure lehnten ab. Sophie Rois bleibt an der Volksbühne, nimmt aber erst einmal ein Jahr Urlaub.

Der Übergang kann – trotz allem Wehgeschrei – so hart nicht sein. Von den insgesamt 227 Mitarbeitern der Volksbühne bleiben 206. Alle Gewerke werden erhalten. Die Literaturreihe im Roten Salon wird weiterhin von Sabine Zielke kuratiert. Christian Morin kuratiert auch in Zukunft das Musikprogramm, wie in den vergangenen acht Jahren. Es liegt erstaunlich viel Kontinuität in diesem Wechsel. Künstlerisch hat Dercon kaum Überraschungen verkündet. Das meiste war schon vorher bekannt. Allerdings fehlen Namen von großen Regisseuren und Schauspielern, wie sie die Volksbühne in der Castorf-Ära prägten.

Das rote Programmheft für seine erste Volksbühnen-Saison stellt Chris Dercon nicht nur vor, man kann es ab sofort auch downloaden, unter http://www.volksbuehne1718.berlin/de/
Das rote Programmheft für seine erste Volksbühnen-Saison stellt Chris Dercon nicht nur vor, man kann es ab sofort auch downloaden, unter http://www.volksbuehne1718.berlin/de/

© dpa/Jörg Carstensen

Man hat bei Dercons Start in Tempelhof, mit der großartigen Aussicht auf die Weite des Flugfelds, das beruhigende Gefühl, dass die Volksbühne manchmal ein Haus wie andere ist. Stets wird, ob von Dercon oder seinen Gegnern, das Gegenteil behauptet, ist die Rede vom Mythos, vom Labor der Avantgarde. Castorf hatte durchaus flaue Jahre, schlechte Inszenierungen, leere Ränge, wie es halt so zugeht im Theater, wenn man sich nicht ständig an sich selbst und den Legenden berauschen kann. Auch bei Dercon wird Normalität einziehen. Das kann nur helfen.

Weiter geht's: Am Berliner Ensemble werden in zwei Wochen die Saisonpläne vorgestellt

Berlins Theaterlandschaft sortiert sich um. Es kommen keine einfachen Zeiten für die Berliner Festspiele. Die Volksbühne übernimmt womöglich deren Platz, während sich die Festspiele kleinmachen. Der Sieger könnte Oliver Reese heißen – und das Berliner Ensemble. Dort werden in zwei Wochen die Pläne präsentiert. Reese setzt auf Dramatiker, auf Schauspieler und Regisseure. Einer von ihnen heißt Frank Castorf.

Der Vorverkauf beginnt am 24. August an der Tageskasse. Das Programm zum Downloaden: http://www.volksbuehne1718.berlin/de/

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