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Christian Boltanski.

© AFP

Christian Boltanski: Der Teufel filmt im Atelier

Er ist einer der wichtigsten Künstler Frankreichs und lässt seit einiger Zeit sein Atelier ununterbrochen von einer Kamera filmen, bis zu seinem Tod. Christian Boltanski bei den Berliner Lektionen.

Am Eingang hängt die Bitte um Verständnis, dass diese Veranstaltung aufgezeichnet wird. Im Internet wird man die „Berliner Lektionen“ als Livestream ansehen können, auch später noch jederzeit abrufbar, überall. So oft man möchte. Das ist sinnvoll für eine Veranstaltungsreihe, die den öffentlichen Diskurs fördern möchte und Politiker und Persönlichkeiten, Dichter und Denker dazu einlädt, ihre Sicht der Dinge zu erklären. Die Spuren, die jeder Besucher dieser Veranstaltungsreihe der Berliner Festspiele auf Film hinterlässt, kann der Einzelne nicht mehr ausradieren. Wie passend also der Hinweis an den Türen des Renaissance-Theaters – ausgerechnet in diesem Jahr, das unter dem Motto „Die Kraft der Erinnerung“ steht. Denn die Form der Erinnerung verändert sich: Digitale Archive wachsen, Computerserver besitzen unendlich viel Speicherkapazität. Passend auch als Einstimmung auf den Gast der gestrigen Lektion: Christian Boltanski, einer der wichtigsten Künstler Frankreichs. Er lässt seit einiger Zeit sein Atelier ununterbrochen von einer Kamera filmen, bis zu seinem Tod. DVDs mit dem Überwachungsmaterial werden in einer Höhle in Tasmanien eingelagert. Sollte sich irgendwann jemand bis dorthin durchgekämpft haben, dann sieht er auf der Scheibe mit den Aufzeichnungen des gestrigen Vormittag, dass sich Boltanski eben nicht im Pariser Arbeitsraum am Kopf kratzt, grübelt, herumläuft. Auch das Nichts ist bei dem 66-Jährigen eine Spur. Die Abwesenheit: Erinnerung.

Boltanski sitzt stattdessen mit eingezogenem kahlgeschorenem Schädel auf der Bühne des Renaissance-Theaters, lässt die Augen wandern und seufzt kaum hörbar. Währenddessen verstrickt sich sein Gesprächspartner, Armin Zweite, Museumsdirektor der Sammlung Brandhorst in München, in einer gut gemeinten, profunden Einführung in dessen Werk und nimmt dem Künstler Wort für Wort, Gedanke um Gedanke vorweg. Bis eine wütende Zuschauerin ruft: „Können Sie jetzt auch mal Herrn Boltanski reden lassen?“ Die Kraft der Erinnerung.

Armin Zweite ist damit der Einzige, der bei dieser Veranstaltung eine Lektition erteilt bekommen hat. Denn von Boltanski, der gern als „Erinnerungskünstler“ bezeichnet wird und der bei der kommenden Biennale in Venedig den französischen Pavillon gestalten soll, hört man leider nichts Zukunftweisendes, nichts Aufrüttelndes, Visionäres.

Das ist nicht unbedingt Boltanskis Schuld. Die Form des moderierten Gesprächs, die Unterhaltung zwischen Kenner und Künstler ist fehl am Platz: Reflexion statt Lektion. Dabei ist Boltanski den Berlinern durchaus nahe. In der Großen Hamburger Straße hat er an die Brandmauern einer Häuserlücke die Namen derer geschrieben, die einst in dem von Bomben zerstörten Gebäude lebten. Im Untergeschoss des Reichstags erinnert das „Archiv der deutschen Abgeordneten“ an alle Politiker von der Weimarer Republik bis 1999. Auch der Name Hitler findet sich auf einem der Metallkästchen, schließlich wurde er gewählt. Genauso wie jene Politiker, die von den Nazis ermordet wurden.

Der Tod, sagt Boltanski, dessen Vater in einem Versteck im Boden des elterlichen Hauses die Judenverfolgung überlebte, ist immer noch ein Tabu. Die Zuhörer sind der lachende Beweis. Boltanski erzählt von einer seiner bekanntesten Arbeiten, „Les suisses morts“ von 1990. Hierfür hat er Fotografien verstorbener Schweizer aus Traueranzeigen vergrößert. Schweizer seien reich, Menschen ohne Probleme. „Und selbst die sterben einmal.“ Erschrockene Lacher. Oder die tasmanische Videoübertragung: Das war ein Pakt mit dem Teufel, wie Boltanski sagt. Denn er hat sich einem Glücksspieler verschrieben, der behauptet, nie zu verlieren. Jedes Jahr zahlt ihm dieser eine gewisse Summe für das Werk. „Wenn ich in fünf Jahren sterbe, hat der ein gutes Geschäft gemacht“, sagt der Franzose. Wieder Lacher. Anna Pataczek

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