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Bloß weg hier. Nelly (Jördis Triebel) und ihr kleiner Sohn Alexej (Tristan Göbel).

© Frank Dicks/Zero One Film

Christian Schwochows DDR-Drama „Westen“: Endstation Marienfelde

Mit "Novemberkind" und "Der Turm" hat sich Christian Schwochow als Spezialist für Ost-West-Geschichten erwiesen. Sein neues DDR-Drama "Westen" zeigt, wie schwer es ist, in der Wirklichkeit anzukommen.

Zum Abschied eine allerletzte Schikane. Weil ihr kleiner Sohn Alexej am Grenzübergang herumquengelt, er müsse „ganz dringend, wirklich“, und von einem DDR-Grenzbeamten auf die Toilette gebracht wird, weigert sich Nelly, wieder in den Wagen einzusteigen, der sie in den Westen, in die Freiheit bringen soll. Sie wird abgeführt, in eine Verhörbaracke gestoßen und muss sich im kalten Neonlicht erst einmal ausziehen. Als sie nach einer mehrstündigen Vernehmung zurückkehrt, sitzt der Sohn längst wieder im Auto. „Haben sie dich auch untersucht?“, fragt Nelly. Alexej antwortet empört: „Nee, ich bin doch nicht krank!“ Und dann hebt sich endlich der Grenzbaum, vor einer malerisch tief im Westen untergehenden Sonne.

Jördis Triebel spielt diese Frau, die sich nicht unterkriegen lässt, nicht von den bellenden Befehlen der Grenzer und nicht von den zwei Jahren, die sie auf einem Friedhof arbeiten musste, nachdem sie den Ausreiseantrag gestellt und ihren Job als Chemikerin bei der Akademie der Wissenschaften verloren hatte. Tristan Göbel ist ihr Sohn mit den dicken Brillengläsern, der von seinen neuen Mitschülern schon bald als „Ostpocke“ verhöhnt wird. Der Weg in die Freiheit führt über den Ku’damm, vorbei an bunten Leuchtreklamen, zum Notaufnahmelager Marienfelde, wo der Westen schon etwas weniger funkelt. Ein Grauschleier liegt über allen Dingen, auch 30 Jahre nach Kriegsende – der Film spielt Ende der siebziger Jahre – scheint hier das Wirtschaftswunder noch nicht angekommen zu sein. Die Unterkünfte befinden sich in barackenartigen Gebäuden, die mit ramponierten Stockbetten möbliert sind. Von den Decken funzelt dasselbe trübe Neonlicht wie im Osten.

Regisseur Schwochow: ein Spezialist für ost-westdeutsche Vergangenheit

Regisseur Christian Schwochow hat sich schon mit seinem Fluchtdrama „Novemberkind“ und der Bestsellerverfilmung „Der Turm“ als Spezialist für die ost-west-deutsche Vergangenheit erwiesen. Sein neuer Film „Westen“, für den wieder seine Mutter Heide Schwochow das Drehbuch lieferte, diesmal nach Motiven des Romans „Lagerfeuer“ von Julia Franck, handelt von einer Desillusionierung: So richtig sexy sieht der Kapitalismus nur aus der Ferne aus. Denn auch in West-Berlin entkommt Nelly den Kämpfen des Kalten Krieges nicht. Sie wird von Vertretern der alliierten Geheimdienste zu Gesprächen eingeladen, und weil sie nicht auf alle Fragen antwortet, werden daraus mehr und mehr Verhöre.

Was ist das, Freiheit?

Nelly beharrt darauf, aus „ganz privaten Gründen“ ausgereist zu sein, um „endlich wieder in meinem Beruf arbeiten zu können“, und will nicht über ihr Forschungsthema in der Akademie und auch nicht über ihren russischen Freund Wassily sprechen, einen Atomphysiker, der vor drei Jahren bei einem Autounfall umkam. Beim Kreuzverhör in die Enge getrieben ruft sie aus: „Wissen Sie, warum ich aus der DDR wegwollte? Wegen solcher Fragen.“ Später sagt sie, sie habe gehofft, endlich frei leben zu können. „Doch jetzt weiß ich nicht mehr, was das ist – Freiheit.“

Für den Lagergenossen Hans, den Alexander Scheer als wortkargen Außenseiter spielt, ist Freiheit sowieso nur eine Farce. In der DDR hat er zwei Jahre im Knast gesessen, weil er Flugblätter verteilte. Dort hatten sie die gleiche blau-weiß karierte Bettwäsche wie in Marienfelde. Er fühlt sich immer noch als Gefangener, erzählt er Nelly gleich bei der ersten Begegnung, deshalb hat er das Gelände schon seit Monaten nicht mehr verlassen. Sonderling? Oder Spitzel? Hans ist eine genauso undurchschaubare Figur wie der CIA-Agent Bird (Jacky Ido), der Nelly im Verhörzimmer verbal attackiert, sich über ihre unrasierten Achseln lustig macht, dann aber mit ihr eine Affäre beginnt. Geliebter? Oder Gegner? Ihr russischer Freund Wassily, erzählt der Geheimdienstler, habe für die Staatssicherheit gearbeitet und sei möglicherweise gar nicht tot. An dieser Stelle könnte ein Agententhriller beginnen.

Doch es gehört zu den großen Vorzügen von Christian Schwochow, dass er Fragen in der Schwebe lassen kann und Geschichten nicht auserzählen muss. Sein Film „Westen“, der schon wegen der Hauptdarstellerin Jördis Triebel sehenswert ist, zeigt, wie schwer es ist, in der Wirklichkeit anzukommen. Aber es lohnt sich.

In Berlin im Cinema Paris, Cinemaxx Potsdamer Platz, Filmtheater am Friedrichshain, Kant Kino, Kino in der Kulturbrauerei, Passage

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