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© dpa

Christoph Schlingensief: Der Gott der guten Dinge

Praktisch Wahnsinn: Christoph Schlingensief legt in Burkina Faso den Grundstein für sein afrikanisches Operndorf.

Ein alter Mann hat den Platz abgeschritten und die Geister befragt. Hart und melodisch ist seine Stimme. Die Fremden sind willkommen. Die Zeremonie kann beginnen. Viele Reden werden gehalten in diesen zwei Stunden unter sengender Sonne, leidenschaftliche, mit Freude erfüllte Reden. Der Kulturminister Filippe Savadogo spricht, der Gouverneur, der Bürgermeister, der deutsche Botschafter in Burkina Faso und der Botschafter von Burkina Faso in Deutschland, der aus Berlin angereist ist für die Grundsteinlegung des Operndorfs Remdoogo. In der flirrenden Hitze scheint sich der Traum schon zu materialisieren. Und immer sprechen die Redner ihren Dank aus, als stünde das Dorf der Künstler und der Kinder vor ihren Augen, als sei dies nicht die Grundsteinlegung, sondern die Einweihung eines Projekts, das seinesgleichen nicht hat, weder in Afrika noch sonst auf der Welt.

„Mein letzter Dank gilt Gott“, sagt Christoph Schlingensief, „Gott ist mehr, als wir aus ihm gemacht haben. Er ist grenzenlos.“ Und er fügt hinzu: „Ich bin kein esoterischer, aber ein gläubiger Mensch.“ Er trägt ein afrikanisches Gewand und einen spitzen Sonnenhut. Einer der afrikanischen Redner hat Schwierigkeiten mit dem deutschen Namen. Er sagt „Schlingen-Chief“. Häuptling Christoph. Das trifft es ganz gut.

Wenn es irgendwo einen Ort gibt, der frei und unschuldig genug ist, um Schlingensiefs Vision aufzunehmen – er hat ihn gefunden. Ein Plateau, eingerahmt von Felsen und mächtigen Bäumen, eine Autostunde außerhalb von Ouagadougou, der Hauptstadt des kleinen westafrikanischen Staates Burkina Faso. Der Kulturminister hat das Gelände für das Operndorf vorgeschlagen. Schlingensief wollte sein Projekt nicht in der Stadt realisieren, wenngleich Ouagadougou eine strahlkräftige Kulturszene besitzt, mit dem panafrikanischen Filmfestival, einem internationalen Theaterfestival und einer internationalen Tanzszene. Bemerkenswert für ein Land, das zu den ärmsten der Erde zählt.

Hier draußen habe er eine „Kraft gespürt, die Dramaturgie der Natur“, sagt Schlingensief. Seine Rede ist lang, und dafür entschuldigt er sich. Es sei ihm so unendlich wichtig, seine Idee zu erklären. Er ist erregt, aber er wirkt nicht entrückt. Der Gesundheitszustand des Krebskranken scheint stabil. Es wird ein endlos langer Tag. Vor Kameras und Mikrofonen, beim Empfang des Premierministers und bei Cocktails in der Residenz des deutschen Botschafters wiederholt Schlingensief das Mantra vom Operndorf: Ein Gesamtkunstwerk soll Remdoogo werden, mit einer Schule und einer Krankenstation und einem Festspielhaus für 600 Besucher. Nach mehreren Afrika-Reisen habe er sich für Burkina Faso entschieden, er schwärmt von der „spirituellen Reinheit seiner Bewohner“, und er sagt, da wird seine Stimme zornig, man müsse von Afrika lernen. „In Europa leben wir vollgefressen, auf Kosten von Menschen, die keine Chance haben, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.“

Sind es die glühenden Worte, die Tänze, die Musik, ist es die weite Reise aus dem deutschen Winter in die Sonne und das Gefühl, einen außergewöhnlichen Moment zu erleben, der die Begriffe des Kulturbetriebs sprengt? Ist es Suggestion – und redet man sich die Magie des zweifellos malerischen Ortes bloß ein, den man nachher im klimatisierten Bus wieder verlässt, auf einer Fahrt durch staubige Ortschaften? Ist dies nicht ein einziger Wahnsinn?

Das Wort fällt immer wieder. Wahnsinn. Ein Wahnsinnsprojekt. Das Wahnsinnigste, was sich ein Künstler ausgedacht hat, seit Werner Herzog am Amazonas seinen Fitzcarraldo-Dampfer über einen Berg geschleppt hat? Aber die Fitzcarraldo-Phase hat Schlingensief überwunden. Und auch Bayreuth liegt hinter ihm. Nur schleppt er Richard Wagners Vision vom Gesamtkunstwerk noch immer mit sich herum. Es steckt tief drin in dem Wort „Operndorf“. Ein Opernhaus in der Savanne: Man kann das nur begreifen, wenn man sich vorstellt, dass Schlingensief all das kulturhistorische Gepäck mit sich herumschleppt bis nach Westafrika, um es zu überwinden. Oper ist die moribunde Kunstform schlechthin, die bürgerliche Dekadenz, und Schlingensief will das Monstrum vom Kopf auf die Beine stellen. Es handelt sich offenbar um eine Art von Wahnsinn, der ins Gegenteil umschlägt, ins Praktisch-Pragmatische. Was ihn krank gemacht hat, damals beim „Parsifal“ in Bayreuth – nun könnte es die Heilung bringen. Schlingensief erinnert an das antike Theater in Epidauros auf dem Peloponnes, wohin die alten Griechen zur Behandlung von Krankheiten gingen.

Stundenlang hört man ihm zu, und Wahnsinn bleibt Wahnsinn. Im Hintergrund stehen die Container mit der Theatertechnik, die die Ruhr-Triennale als Spende für das Operndorf nach Afrika geschickt hat. Nach der Farbe des Bodens ist das hier Schlingensiefs Roter Hügel, der Endpunkt einer Reise, die ihn von Wagners Grünem Hügel in Bayreuth über Manaus, Berlin, Duisburg und Wien nach Burkina Faso geführt hat. Der Gral, endlich.

All das geht einem durch den Kopf, der wahre Wahnsinn. Doch Remdoogo, das Operndorf, hat im Grunde ein ganz anderes Gesicht. Der Architekt Francis Kéré – er stammt aus Burkina Faso und lebt in Berlin – ist Christoph Schlingensiefs Partner, und wenn man es genau betrachtet, ist es Kéré, der die Verantwortung trägt. Er wird die Anlage bauen, er hat sie entworfen, das Ensemble, das sich mit natürlichen Materialien und Formen in die Landschaft schmiegt. Für seine Schule in Gando, im Süden des Landes, ist Francis Kéré mit dem Architekturpreis des Agha Khan ausgezeichnet worden. Kéré, ein Königssohn, ist ein stiller Visionär, ohne ihn liefe Schlingensiefs Idee ins Leere. Im Gespräch mit Kéré wird klar, dass dieses Operndorf kein Phantom bleiben wird. Sein Prestige hängt daran. Im Oktober sollen die ersten Gebäude stehen. Aus der Kombination Kéré-Schlingensief erklärt sich auch erst die Aura, die das Projekt umgibt. Und die Begeisterung, die es auslöst. Schon seit der frühesten Phase unterstützt das Goethe-Institut den verwegenen Plan. Das Auswärtige Amt und die Bundeskulturstiftung sind dabei, Bundespräsident Horst Köhler schwärmt für das Operndorf. Herbert Grönemeyer, Roland Emmerich und Henning Mankell haben sechsstellige Summen gespendet. Sie alle hat Schlingensief angesteckt mit seiner Leidenschaft: „Das Verhältnis zwischen den Menschen soll die höchste Kunstform unserer Welt werden.“

Joseph Beuys hallt da nach, mit seiner Vision der „sozialen Plastik“ und seinem Wort, dass jeder Mensch ein Künstler sein könne. Und immer wieder sagt Schlingensief: „In Remdoogo soll man leben und lernen.“ Den Wagnerianer bekommt er nicht heraus aus seinem Kopf und seinem Körper. Er träumt von einer Kraft, die von ihrem zerstörerischen Potenzial befreit werden kann. Und plötzlich ruft er aus: „Der erste Schrei eines Neugeborenen ist schöner und kostbarer als der schönste Klang, den alle Opernkunst hervorbringt.“ Oper als Metapher für eine Sehnsucht, als Chiffre für etwas, das selbst Christoph Schlingensief nicht in Worte fassen kann. Er sagt Oper, und vielleicht meint er Gott. Es ist der uralte Künstlertraum, an den Ursprung der Dinge zu gelangen und das Ewig-Menschliche zu fassen. Am Ende seiner langen Rede zitiert er spontan Goethes „Faust“, der Dolmetscher ist überfordert, und die Bewohner aus den Gehöften, die dem Spektakel im Schatten der Bäume beigewohnt haben, sie machen sich bereits auf den Heimweg.

Werden sie wiederkommen, wenn die Schule eröffnet ist und die Krankenstation? Wenn Christoph Schlingensiefs erste Remdoogo-Produktion hier gezeigt wird? Er wird sich Luigi Nonos „Intolleranza“ vornehmen, große politische Oper, die von Folter, Revolution und Elend erzählt. Er will dabei mit Künstlern aus Burkina Faso arbeiten, die Premiere soll dann aber in Brüssel sein, beim „Kunsten“-Festival im Mai; danach vielleicht Gastspiele in München und Wien. Man wird sehen. Auch ob das Geld ausreicht. Inoffiziell ist die Rede von zwei Millionen Euro Kosten für das Operndorf. Viel Geld in einem Land mit einem Pro-Kopf-Einkommen von 543 Dollar im Jahr.

Und dann senken sie das dicke Rohr in die Erde. Legen Zeitungen vom Tage, vom 8. Februar 2010, in den Zylinder, und Schlingensief packt einen Super-8-Film dazu, Aufnahmen vom zehnjährigen Christoph im Ruhrgebiet. Dann wird das Loch zugeschaufelt. Der Grundstein ruht in afrikanischer Erde. Als würde ein Traum begraben, damit er lebt. 

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