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Kultur: Christoph Wolff sprach in der American Academy, Igor Blaschkow dirigiert das DSO

Es klingt wie eine Sensation: Das Deutsche Symphonie-Orchester spielt eine völlig unbekannte Sinfonie des selbst von Haydn bewunderten Sinfonikers Carl Philipp Emmanuel Bach, dazu zwei weitere Arien des zweitältesten Bachsohns und ein noch nie diesseits des Urals gespieltes Flötenkonzert seines Bruders Wilhelm Friedemann. Ausgräber der musikalischen Schätze ist der ukrainische Dirigent Igor Blaschkow, bekannt als Beteiligter der Kontroverse um einen der bedeutendsten Notenfunde der letzten Zeit.

Es klingt wie eine Sensation: Das Deutsche Symphonie-Orchester spielt eine völlig unbekannte Sinfonie des selbst von Haydn bewunderten Sinfonikers Carl Philipp Emmanuel Bach, dazu zwei weitere Arien des zweitältesten Bachsohns und ein noch nie diesseits des Urals gespieltes Flötenkonzert seines Bruders Wilhelm Friedemann. Ausgräber der musikalischen Schätze ist der ukrainische Dirigent Igor Blaschkow, bekannt als Beteiligter der Kontroverse um einen der bedeutendsten Notenfunde der letzten Zeit. 1999 stieß der Bach-Forscher Christoph Wolff von der Harvard-University in Kiew auf das Archiv der Sing-Akademie zu Berlin. 1943 war die Sammlung nach Schlesien ausgelagert worden, dann verlor sich jede Spur. Eine Sensation, enthält die Sammlung doch über 5000 Manuskripte. Allein die Komponistennamen lesen sich wie das who is who der deutschen Musikszene des Spätbarock und der frühen Klassik.

Wochen nach dem Bekanntwerden des Fundes meldete sich jedoch ein ukrainischer Dirigent zur Wort, der behauptete, die Sammlung seit 30 Jahren zu kennen und bereits etliche Werke daraus mit dem Kiewer Kammerorchester aufgeführt zu haben: Igor Blaschkow. Es gab Streit: Blaschkow fühlte sich in seiner Entdeckerehre verletzt. Am Rande der Proben mit dem DSO auf die Streitigkeiten angesprochen, gibt sich Blaschkow moderat: der Medienrummel habe ihn "überrascht"; Vorwürfe erhebt er keine mehr. Aber seinen Entdeckerstolz merkt man ihm doch an, wenn er seine Geschichte erzählt: Wie er als Student einen Professor über einem Stapel alter, schwer entzifferbnarer Noten gesehen hätte. Wie er sich, als er die Leitung des Kiewer Kammerorchesters übernahm, an diese Noten erinnert habe. Und wie ihn die Bibliothekarin des Konservatoriums an zwei bis zur Decke reichende Schränke geführt habe, die Schranktüren öffnete und sagte: "Wählen Sie aus." Seit 1969 hat Blaschkow etwa zwanzig selbst abgeschriebene Werke in 28 Konzerten dirigiert - wo er seine Noten herhatte, schrieb Blaschkow in den Programmheften allerdings nicht. Das Rätsel, warum trotz dieser Aufführungen und intensiver Suche von Forschern aus Ost und West kein Wissenschaftler von dem Verbleib erfahren hat, kann Blaschkow nicht aufklären. Er erinnert nur daran dass das Interesse an Alter Musik in den siebziger Jahren in der Ukraine gering gewesen sei: Habe er ein Stück für den Rundfunk einspielen wollen, hätte er für jedes alte Werk immer ein paar Werke ukrainischer Komponisten mit aufnehmen müssen.

Während Blaschkow noch im Sendesaal des SFB probt, hat auch Professor Wolff Gelegenheit, seine Sicht der Detektivgeschichte um die Noten zu erläutern - vor allem aber, erste Forschungsergebnisse zu präsentieren. Die American Academy hatte ihn eingeladen, um seine neue Bach-Biographie vorzustellen - doch natürlich schwebt der Name "Kiew" im Raum. Und Wolff zeigt, dass selbst ein nüchterner Wissenschaftler Erlebniswert aus den alten Noten herauszuholen versteht. Unter den Stapeln, erläutert der Forscher, fand sich auch eine Motette von Bachs Großonkel Johann Christoph Bach, abgeschrieben vom Thomaskantor höchstselbst. Nach Wolffs Ansicht kein beliebige Abschrift, sondern genau das Notenmaterial, das Bach selber für die musikalische Ausgestaltung seiner eigenen Beerdigung eingerichtet hat.

Das Stück selber ist schon bekannt und eingespielt, nur kannte man eben seine besondere Bedeutung nicht: die Begräbnismusik zu sein, mit der sich der Thomaskantor ein letztes Mal vor seinen musikalischen Vorfahren verbeugte. Die Musikologen blicken andächtig auf das Notenblatt mit den zittrigen Schriftzügen des alten Johann Sebastian und dem Inventarstempel des ukrainischen Konservatoriums, das Wolff mit dem Diaprojektor an die Wand wirft. Und der Wissenschaftler hat eine weitere Neuigkeit parat: Im nächsten Jahr wird er fünf Monate in Berlin sein, um mit Hilfe der Erkenntnisse aus der Sammlung der Sing-Akademie die Berliner Musikgeschichte des 18. Jahrhunderts neu schreiben zu helfen. Denn um die stand es trotz der Fülle von musikwissenschaftlichen Instituten der Stadt schlecht - unter anderem wegen der grossen Lücke im Quellenmaterial, welche die verschwundenen Bestände hinterlassen hatten.

Die Forscher können zufrieden mit ihren kleinen Sensationen nach Hause gehen. Doch wie steht es um die Entdeckungen von Igor Blaschkow? Fragt man Wolff, dann könnte der Abend möglicherweise eher spannend als sensationell werden. Denn es scheint fraglich, ob wirklich alle Stücke wie angekündigt von den Bach-Söhnen komponiert worden sind. Die Sinfonie in Es-Dur, mit der das Programm beginnt, muss nach Wolffs Ansicht überhaupt kein Stück von Bach sein: Den Namen "Bach" auf ein Manuskript zu schreiben, war im 18. Jahrhundert ein beliebter Trick, um die Noten besser verkaufen zu können. Und in Brüssel liegt eine andere Abschrift der Sinfonie - ohne jeden Hinweis auf Bach. Grund genug, hellhörig zu werden: Hat Blaschkow vielleicht selbst Zweifel bekommen und deswegen die schon angekündigte späte B-Sinfonie des Meisters kurzfristig vom Programm genommen? Keinen Zweifel an der Identität des Komponisten wird es an diesem Abend nur in der zweiten Programmhälfte geben: dann nämlich spiel Emile Naoumoff als Solist seine Bearbeitung von Mussorgskis "Bilder einer Ausstellung" als Klavierkonzert.Heute 20 Uhr, Philharmonie, Einführungsveranstaltung um 19 Uhr im Chorprobensaal.

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