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Kultur: Chronik eines angekündigten Massakers

In den USA sind die Aufzeichnungen der beiden Amokläufer von Columbine veröffentlicht worden

Wenn Tschechow Recht hatte, dann war das Ende dieser Geschichte absehbar, von Anfang an. Ein Gewehr, das im ersten Akt an der Wand hängt, wird spätestens im letzten Akt abgefeuert – und in jenen Erzählungen, die derzeit die amerikanische Öffentlichkeit beschäftigen, wimmelt es nur so von Gewehren. Meist hängen sie nicht an der Wand, sondern zittern von den ersten Zeilen an entsichert in den fiebernden Händen glutäugiger Racheengel. Wie in jenem Schulaufsatz, dessen schwarz gewandeter Held neben einer abgesägten Schrotflinte ein Messer am Gürtel, Pistolen an den Hüften und Schlagringe an den Fingern trägt. Er sucht seine Opfer, er findet und richtet sie: den ersten per Kopfschuss, den nächsten mit einem Schnitt durch die Kehle, den letzten mit einem Stoß der eisenbespickten Hand durch die Schädeldecke.

Nun ist diese grauenerregende Geschichte zwar nur ein Schulaufsatz, aber seit dieser veröffentlicht wurde, fragen sich viele Leser, ob der zuständige Lehrer nicht hätte aufhorchen müssen angesichts der Blutlust, die aus jeder Zeile spricht. Der Lehrer der Columbine High School in Colorado tat es nicht, auch das ist dokumentiert: Lediglich ein paar Rechtschreibfehler hat er korrigiert. Im Großen und Ganzen aber fand er die Erzählung „correct“ und setzte sein Häkchen an den Seitenrand.

Nur zwei von insgesamt knapp eintausend Seiten nimmt der Aufsatz auf einer CD ein, die seit wenigen Wochen im Sheriff’s Office von Jefferson County zum Selbstkostenpreis von fünf Dollar erhältlich ist. Neben Schulmaterial enthält sie Tagebuchaufzeichnungen, Einkaufslisten, Stundenpläne, Zeichnungen und Kassenbons von Eric Harris und Dylan Klebold, jenen beiden Jungen, die am 20. April 1999 in ihrer Schule Amok liefen, dreizehn Menschen in den Tod rissen und sich schließlich selbst das Leben nahmen. In den Kinderzimmern der beiden, in ihren Autos und auf ihren Festplatten haben Gesetzeshüter das Aktenmaterial zusammengetragen. Man findet auf der CD penibel angelegte Skizzen jener Schulflure, die Harris und Klebold später mit Maschinengewehrsalven überzogen. Man findet Einkaufszettel mit Zutaten für die Konstruktion von Bomben, Planskizzen, wie sich Waffen am besten am Körper verstecken lassen. Und man findet den gesamten Vorlauf der Operation „NBK“, wie Harris und Klebold ihren Plan in den Aufzeichnungen nennen – ein Kürzel für Oliver Stones Serienmörder-Film „Natural Born Killers“.

Nach langen Diskussionen über das Für und Wider einer solchen Publikation hat sich die amerikanische Staatsanwaltschaft letztlich entschieden, das gesamte Material der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen: auf dass, so die Idee, Pädagogen, Eltern und Schüler das Konvolut des Grauens nach Warnsignalen durchforsten mögen, deren Früherkennung eine ähnliche Katastrophe in Zukunft verhindern könnte.

Ein sieben Jahre zurückliegender Fall wird somit zum öffentlichen Whodunnit – zum Ratekrimi einer ganzen Nation. Ihrer Struktur nach ähnelt die Materialsammlung allerdings eher einem avantgardistischen Roman: Der CD fehlt jeglicher Kommentar, jeder Leser ist gänzlich alleine mit diesem Berg verstreuter Notizen, deren Chronologie und Zusammenhang selbst erarbeitet werden will. Gleichzeitig kennt jeder Leser den Ausgang der Geschichte – und ihr Hergang ist zudem sattsam mit Interpretationsansätzen überfrachtet. Drei Filmemacher, unzählige Journalisten und nicht zuletzt ein Gericht haben sich an Erklärungen zur Motivation der Täter versucht.

Dass es so kommen würde, davon gingen Harris und Klebold offenbar aus, als sie die Frage nach dem Motiv in ihren Aufzeichnungen vorwegnahmen: „Irgendjemand“, schreibt Eric Harris, „wird die Frage stellen: Was haben sie sich dabei gedacht? Ich werde euch sagen, was ich denke. Mein Ziel ist es, so viel wie möglich zu zerstören. Ich will die Welt verbrennen. Ich will jeden töten. Wenn du das hier liest, hast du Glück gehabt, dass du meiner Wut entkommen bist, denn ich wollte dich töten.“

Damit ist die Frage nach dem „Warum“ zwar rhetorisch beantwortet – aber letztlich bleibt das Materialkonvolut eine Erklärung des Grauens schuldig. Hineinlesen freilich lässt sich einiges. Deutsche Leser wird insbesondere die Beharrlichkeit irritieren, mit der Eric Harris seine Bewunderung für den Nationalsozialismus ausbreitet, auch öffentlich. Einen Aufsatz über Hitler etwa beginnt er mit der lustvoll ausgemalten Schilderung eines bis an den Rand mit Leichen gefüllten Fußballstadions – um dann festzustellen, dies sei nur ein Bruchteil von Hitlers Todesopfern. „Interessante Einleitung!“, hat der Lehrer am Rand vermerkt.

Kann den Lehrern, muss ihnen Blindheit vorgeworfen werden? Kaum. Tausende von Teenagern leben mit blutrünstigen Kritzeleien Gewaltfantasien aus, ohne diese jemals Realität werden zu lassen. Und tausende empfinden jenen grenzenlosen Welthass, der aus den Aufzeichnungen der beiden Amokläufer spricht. Jeder Leser mit einem Mindestmaß an Selbstreflexion wird sich in mancher Passage an beängstigende Regungen der eigenen Teenagerjahre erinnert fühlen.

Wer allerdings darauf aus ist, die Bluttat mit äußeren Einflüssen zu erklären, der wird ohne weiteres fündig. Man kann, wenn man nur will, die Geschichte von Eric Harris und Dylan Klebold als Verführung durch düster-deutsches Gedankengut lesen: Neben der Nazi-Verherrlichung heißt es bei Harris auch „I just love Nietzsche!“, an anderer Stelle finden sich Rammstein-Texte und der deutsche Satz „Ich bin Gott“. Wer will, kann Realitätsentfremdung durch gewaltverherrlichende Videospiele geltend machen: Klebold schreibt, das bevorstehende Massaker werde „wie Doom“ sein, jenes Ballerspiel, das schon kurz nach dem Amoklauf als Inspirationsquelle ausgemacht wurde. Wer will, kann die quasi-religiösen Weltauslöschungsfantasien der Schüler als Zeugnis einer gestörten Psyche zitieren. Auch als Rebellion gegen die „Lügen der Regierung“ ließe sich das Material lesen, oder gegen die „Scheinwelt von Hollywood“. Wer will, kann Dylan und Harris als schlicht Frustrierte begreifen, die sich wie andere Teenager nach Aufmerksamkeit sehnten: „Ihr hattet meine Nummer“, schreibt Harris, „aber keiner hat den hässlichen Eric angerufen.“ Und nicht zuletzt ließe sich Freud bemühen: „Vielleicht brauche ich einfach nur Sex“, notiert Harris wenige Tage vor dem Massaker.

Und doch findet sich auf den gesamten 936 Seiten letztlich keine überzeugende Erklärung für das Grauen von Columbine. Der Grund dafür ist ein doppelter. Zum einen lässt sich die Geschichte heute nur noch von ihrem Ende her lesen: Weil man weiß, dass das Gewehr abgefeuert wurde, meint man bei der Lektüre ständig, es an der Wand hängen zu sehen. Zum anderen ist die Selbstauskunft der beiden Amokläufer, wie sie in den Columbine Files dokumentiert ist, zwar drastischer, aber doch literarischer Natur – und damit nur bedingt für Rückschlüsse auf die Realität geeignet.

Vielleicht ist das Rätsel so simpel und so unauflösbar wie die Sätze, mit denen Harris in seinem eingangs zitierten Schulaufsatz die Motivation des fiktiven Mörders erklärt: „Der Mann lächelte. In diesem Moment verstand ich, ohne mich darum zu bemühen, seine Handlungen.“

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