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Schmerzhafte Prozedur: Eine Seite aus dem besprochenen Buch.

© Edition Moderne

„Lotusfüße“ von Li Kunwu: Gebrochene Leben

Erst begehrt, dann stigmatisiert: Anhand der Geschichte seines Kindermädchens gelingt Li Kunwu ein ungewohnter Einblick in die chinesische Kultur und Geschichte.

Ein bizarres Schönheitsideal, das im Kaiserreich China 1000 Jahre gültig war: kleine Füße, die an eine Lotosblüte erinnern - „Lotusfüße“. Zahllosen Mädchen wurden die Füße auf schmerzhafte Weise gebunden, um eine attraktive Ehekandidatin für gut betuchte Bewerber abzugeben. Der 1955 geborene chinesische Zeichner Li Kunwu, der bereits 2012/13 mit der zusammen mit dem französischen Autor Philippe Otié verfassten monumentalen drei bändigen Comic-Autobiografie „Ein Leben in China“ auf sich aufmerksam machte, konzentriert sich diesmal auf eine Randfigur in seinem Leben. Er erzählt vom berührenden Schicksal seines Kindermädchens Chunxin, deren Füße noch zu Zeiten der letzten Kaiser-Dynastie gebunden wurden.

Chunxin war damals erst sechs Jahre alt. Ihre Mutter entschied sich für die schmerzhafte Maßnahme, um ihrer Tochter ein besseres Leben in Wohlstand zu ermöglichen. Unter „Binden“ verstand man, dass die Füße im Kindesalter so unter die Fußsohlen gebunden wurden, dass ihr Wachstum behindert wurde – meist mussten ihnen dazu auch die Zehengelenke gebrochen werden. Kleine, spitze Füße galten bei jungen Frauen als anmutig, auch wenn die so verstümmelten Frau nur noch unter Schmerzen laufen konnten und meist getragen werden mussten.

Alltägliche Willkür

In kurzen Episoden handelt Li Kunwu die verschiedenen Stationen in Chunxins Leben ab – als kleines Mädchen kann sie sich der Maßnahme nicht verweigern, die ihre unbeschwerte Kindheit mit einem Schlag beendet. Als junge Frau genießt sie die vielen Geschenke ihrer zahlreichen Ehe-Bewerber, die sie ihrer gebundenen Füße wegen begehren. Doch diese kurze Zeit endet abrupt, als 1912 die erste Republik ausgerufen wird. Plötzlich gelten gebundene Füße als rückständig und werden verboten, genauso wie vielen chinesischen Männern die – bislang als Zeichen der Manneskraft geltenden - Zöpfe abgeschnitten werden.

Chunxin zieht sich aufs Land zurück und wird Bäuerin, ohne jede Aussicht auf eine Heirat. Doch Chunxins Leidensweg beginnt erst so richtig, als der kommunistische Revolutionsführer Mao Tse-tung (bzw. Zedong) nach dem Zweiten Weltkrieg an die Macht kommt. Chunxins Bauernhof wird verstaatlicht. Aufgrund ihrer Füße, die nun als „feudalistischer Plunder“ angesehen werden, wird sie der einstigen Oberschicht zugerechnet, wird diskriminiert und verliert alles. Ein bescheidenes Dasein als Kindermädchen in der Familie Li bietet ihr ein Auskommen.

Schönheitsideal: Eine weitere Seite aus dem Buch.
Schönheitsideal: Eine weitere Seite aus dem Buch.

© Edition Moderne

Der Vater des Zeichners ist ein Funktionär, der später in Ungnade fällt, Li Kunwu selbst tritt als Bube auf und später als regimetreuer Soldat. Chunxin bleibt ihm als ein schon greises, aber stets liebevolles Kindermädchen in Erinnerung, das ihm eines Tages ihre Geschichte erzählt.

Maos politische Programme wie „Der große Sprung nach vorne“ von 1958 und die „Kulturrevolution“ ab 1966 werden in der Graphic Novel - durch die verknappte Darstellung und die Fokussierung auf ein Frauenschicksal noch deutlicher als in der Autobiografie - als erbarmungslos und menschenverachtend entlarvt. Li Kunwu macht deutlich, wie verheerend sich Maos Politik auf das normale Leben auswirkte und wie die Menschen sich der Willkür beugen mussten, um zu überleben.

Zwischen Karikatur und Realismus

Auf der grafischen Ebene überzeugt Kunwu mit einem eigenständigen, organisch-expressiven Strich, der auf den ersten Blick schwer einzuordnen ist. In keiner Weise erinnert er an die bekannten, für ganz Ostasien stilbildenden japanischen Manga-Schemata - und auch nicht an „Manhua“, wie moderne, von Manga-Ästhetik beeinflusste Comics in China genannt werden, bei denen die Farbe allerdings eine wichtigere Rolle spielt.

Li Kunwus schwarzweißer Tusche-Zeichenstil enthält Verweise zur traditionellen chinesischen Holzschnittkunst, weist aber in seinen meist krummen Darstellungen von Architekturen, Charakteren (und auch schiefen Panel-Umrandungen) deutliche Elemente der Karikatur und der Groteske auf, wie sie etwa der große südamerikanische Comic-Meister Alberto Breccia (1919-1993, u.a. „Dracula“, „Mort Cinder“, „Perramus“) zum Stilmittel erkor.

Langer Leidensweg: Die Hauptfigur des Buches auf dem Cover.
Langer Leidensweg: Die Hauptfigur des Buches auf dem Cover.

© Edition Moderne

Allerdings hält Li Kunwu seinen Stil nicht konsequent durch und fällt in manchen Panels, die historische Ereignisse oft auf ganzen Seiten verdichten, in eine Art „sozialistischen Realismus“ zurück, dem etwas Ironie gut getan hätte: so stellt der Zeichner etwa Mao übergroß dar wie auf sozialistischen Propagandabildern oder füllt eine ganze Seite mit einer heroisch wirkenden Darstellung einer Polit-Agitatorin. Doch vielleicht sind dies nur Ausrutscher, schließlich war Li Kunwu jahrelang ein angestellter Propaganda-Zeichner.

Auch wenn mancher historische Moment nur knapp angerissen wird - insgesamt gelingt Li Kunwu eine authentische, berührende Erzählung, die pointiert nahezu die gesamte chinesische Geschichte des 20. Jahrhunderts Revue passieren lässt und so dem westlichen Leser anschaulich, ja fassbarer macht.

Li Kunwu, Lotusfüsse, Edition Moderne, Übersetzung aus dem Französischen: Christoph Schuler, 128 Seiten, 19,80 Euro

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