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© Illustration: Lauffray/Carlsen

Abenteuercomic: Meuterei auf der Neptune

„Long John Silver“ ist eine Hommage an Robert Louis Stevensons „Schatzinsel“. Mit grandiosen Bildern beschwört die Serie den Zauber des klassischen Romans.

Seit dem Erscheinen von „Neptune“ Ende des vergangenen Jahres liegen beim Carlsen-Verlag nunmehr zwei Bände der Long-John-Silver-Reihe vor – vier sollen es am Ende werden. Wie die Autoren Xavier Dorison und Mathieu Lauffray in einer Eingangsnote voranstellen, versteht sich das Werk ausdrücklich nicht als eine Fortsetzung von Robert Louis Stevensons „Schatzinsel“, sondern „als bescheidene Hommage an dieses immense Meisterwerk, das uns seit unserer Kindheit fasziniert“.

Es erzählt eine eigene Geschichte, rund zwanzig Jahre nachdem sich die Wege der Besatzung der „Hispaniola“ getrennt haben, und verweist nur gelegentlich konkret auf die Handlung des Klassikers. So übernimmt es einige Figuren – allen voran natürlich den undurchsichtigen Schiffskoch Long John Silver selbst, und Doktor Livesey, den Arzt, der hier als Erzähler fungiert. Auch einige bei Stevenson angelegte Motive oder Charakterzüge finden hier Eingang; darunter natürlich die treibende Kraft des Strebens nach Gold und Reichtum, aber auch der blutsbrüderliche Zusammenhalt der Piraten und die fast väterliche Verbindung des sonst oft skrupellosen Silver zu einem jugendlichen Besatzungsmitglied.

Auf den ersten Blick lassen beide Bände einiges erwarten, obwohl sich Carlsen zum Leidwesen vieler Sammler für eine Soft-Cover-Ausgabe entschieden hat: Das Papier ist hochwertig, die Covergestaltung mit großen atmosphärischen Bildern von morbider Faszination, und Titel und Logo sind sorgsam und passend gestaltet.

Rachepläne, Meuterstimmung

Die Geschichte gibt Long John Silver eine Art weiblichen Gegenpart zur Seite: Die für den ersten Band titelgebende Lady Vivian Hastings, nach dreijähriger Abwesenheit ihres Gatten von einem ihrer Liebhaber im fünften Monat schwanger, erfährt, dass ihr Mann Byron auf seiner Expedition die sagenhafte Stadt der tausend Reichtümer, Guyanapac, entdeckt und seinen Bruder damit beauftragt hat, ihren gesamten Besitz zu verkaufen, um den Fortgang der Expedition zu finanzieren.

Konfrontiert mit der Aussicht auf Armut, Gefangenschaft im Kloster, und der zu erwartenden wenig erfreuten Reaktion von Lord Byron Hastings auf ihre Schwangerschaft, entschließt sie sich kurzerhand, gemeinsam mit ihrem Schwager die Überfahrt nach Südamerika anzutreten und sich die Ausbeute gegebenenfalls selbst zu sichern. Zu diesem Zweck verbündet sie sich mit Long John Silver, der ihr von Doktor Livesey vorgestellt wird, und der mit wenig zimperlichen Mitteln eine Reihe seiner Männer auf dem Expeditionsschiff unterzubringen weiß. Am Ende des ersten Bandes ist die „Neptune“ ausgelaufen und begibt sich auf die Reise Richtung Guyanapac.

Der zweite Band setzt nach mehreren Wochen auf See ein – die Moral sinkt, die Stimmung ist schlecht, und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die Meuterei ausbricht. Nur der Umstand, dass ohne Kapitän Hastings, der im Besitz der notwendigen Karte ist, ein Erreichen des Ziels unmöglich scheint, hält die Piraten noch davon ab, das Schiff in ihre Gewalt zu bringen. Wie im Roman versteht Long John Silver es auch hier, die Fäden zu ziehen, und ein Großteil der Mannschaft ist ihm wohlgesonnen. Kapitän Hastings hingegen ist durchaus misstrauisch, und auch Lady Vivians Dienstmädchen Elsie, von jener immer schon recht rücksichtslos behandelt, hegt ihren Groll gegen ihn und ihre Herrin. Als ihr Plan zum Verrat sie das Leben kostet und der jüngste Matrose dafür verantwortlich gemacht wird, kommt die Handlung ins Rollen.

Kalt, verletzlich und unberechenbar

Die Figuren entsprechen dem klassischen Piratenfilmpersonal: Männer mit Perücken wie Kapitän Edward Hastings, ein Adliger und Admiral der englischen Flotte, mit unflexiblem Verständnis von Ehre und Moral; die schöne, aber intrigante Lady Vivian Hastings und ihr deutlich weniger raffiniertes Dienstmädchen; die finsteren Piraten mit Spitznamen wie „Muräne“ oder „Blackblood“; der Arzt Doktor Livesey als Erzähler und auch selbstkritische moralische Instanz. Dabei ist es jedoch gelungen, allen Hauptfiguren eine Dreidimensionalität zu verleihen, die sie interessant bleiben lässt. Allen voran Long John Silver wird angemessen undurchsichtig dargestellt – mal kalt, mal verletzlich; nie zuverlässig einzuschätzen. Und dies, so formuliert es Livesey am Ende des ersten Bandes, ist auch die Motivation der Erzählung: „Endlich Antworten über diesen sonderbaren Menschen“ zu liefern.

So beeinträchtigt es die Geschichte wenig, dass die übrigen Figuren größtenteils Statisten bleiben, manchmal überhaupt nur als Schemen dargestellt werden. Der detaillierten Ausarbeitung wird keine allzu große Bedeutung beigemessen, und tatsächlich gelingt es dennoch oft, ein Kollektiv wie die Mannschaft auf dem Schiff und ihre Stimmung gut zu vermitteln.

Insgesamt nehmen sich die Autoren durchaus Zeit, die Charaktere und Schauplätze einzuführen; für einen Comic von prinzipiell klassischer Machart sind die Bände in eher gemäßigtem Tempo erzählt. Dennoch kommen actionreiche Sequenzen keineswegs zu kurz; diese sind allerdings durch harte und manchmal sehr eigenwillige Schnitte manchmal unübersichtlich, das Geschehen gelegentlich schwer zu erfassen.

Daran hat auch die etwas verwaschene Kolorierung Anteil: In den großflächigen Bildern von Landschaften oder Interieurs, die primär Atmosphäre transportieren, funktioniert diese fantastisch; in den kleinteiligeren und handlungsorientierten Panels hingegen wird sie auf Dauer etwas anstrengend – zumal die Zeichnungen oft nicht sehr präzise gehalten sind. Da Gesichter und die gelegentlich überzeichnete Mimik nicht zu den stärksten Faktoren der Gestaltung zählen und die Figuren hin und wieder schwer zu unterscheiden sind, ist schon ein wenig Konzentration gefordert, um der Geschichte zu folgen.

Jedoch: Die „Neptune“ nachts auf hoher See, das nach dem Verkauf der Möbel und Gemälde leergeräumte Herrenhaus, oder eine Kutschfahrt durch das verschneite England – die stimmungsvollen Bilder, die zwischendurch immer wieder die Handlung unterbrechen und die Atmosphäre neu justieren, sind grandios. Auch dank ihnen haben die Autoren das selbst gesteckte Ziel, „ein wenig von dem Zauber aufzunehmen, der in Robert Louis Stevensons Geschichte wirkt“, absolut erreicht. Dass der Verlag im zweiten Band auf die Eigenwerbung am Ende, die die Stimmung so grob zerpoltert wie eine Splitscreen-Programmankündigung im Spielfilmabspann, angenehmerweise verzichtet hat, trägt dazu ebenfalls bei.

„Neptune“ endet mit einem veritablen Cliffhanger, den Plot betreffend wie psychologisch: Die Meuterei ist begangen, der Kampf hat seinen Zenit eben überschritten - aber der siegreiche Silver ist moralisch vor sich selbst und der Mannschaft beschädigt. Wie er da wieder herauskommt, und auch, was es tatsächlich mit Guyanapac auf sich hat, und mit Lord Byron Hastings, der bisher nur als schemenhafte und durchaus unsympathische Gestalt am Rande auftaucht, das sind Dinge, die man als Leser nun schon wissen möchte. Und gerne auch bald. Erfolgreich angefixt – die Mission einer Abenteuergeschichte wäre damit vorläufig erfüllt.

Xavier Dorison und Mathieu Lauffray: Long John Silver, bislang 2 Bände à 64 bzw 56 Seiten, je 12 Euro, Carlsen-Verlag. Mehr unter
diesem Link, Leseprobe unter diesem Link.

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