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Profilneurotiker. Eine Szene aus der Reihe.

© Illustration: Scheel

Stadtbilder - neue Comics aus Berlin (4): Beobachtungen aus dem Bionade-Biotop

In unserer Serie stellen wir aktuelle Comics aus Berlin vor. Heute: Ulrich Scheels Episoden aus Prenzlauer Berg.

Verkehrte Welt: Auf einer Bank am Spielplatzrand sitzen drei Mädchen im Grundschulalter  und sprechen nachdenklich über ihre Lebensperspektiven, während sich auf den Spielgeräten und im Sandkasten ihre Väter in infantilem Spiel vergnügen oder sich vom Schaukelpferd aus Konkurrenz machen: „Ätsch, mein Handy hat Satellitennavigation…“ – „Dafür kann ich in meins was reinsummen und dann weiß ich, von wem es ist.“

Dies ist eine der absurd-alltäglichen Episoden aus Ulrich Scheels Comic-Strip-Reihe „Schöne Grüße aus Eurem Prenzlauer Berg“, die der Berliner Zeichner auf seiner Website www.ulrichscheel.de veröffentlicht hat (hier geht es direkt zu der Geschichte). Darin geht es um „profilneurotische Eight-to-Nine-Väter, geistig weggetretene Mütter mit wackligen Kinderwagen und eine Infrastruktur, die erhebliche Mängel in der Grundversorgung aufweist“, wie Scheel in seiner Einleitung spöttelt. Der Prenzlauer Berg – für ihn ein „großer Bioladen, der sich klammheimlich zurück in die 50er bewegt“.

Was man da erleben kann, hat der 34-jährige Scheel in bislang drei fein beobachteten und in der Regel nur leicht zugespitzen Comic-Kurzgeschichten festgehalten. Die Episoden basieren auf Zufallsfunden im Alltag seines Viertels: Scheel wohnt an der der Greifswalder Straße, „eine herrlich ostige Schneise, die sich quer durch den Bötzow- und Kollwitzkiez zieht“, wie er sagt. Da brauche man beim Einkaufen nur mal nach links oder rechts abzubiegen, um eine komplett andere Welt zu betreten: „Die Leute, die dort wohnen, haben drei grundsätzliche Macken: Sie haben zu viel Geld, sie sind provinziell und sie schotten sich ab.“

Ein Quoten-Ossi auf dem Spielplatz der Zugezogenen

Das amüsiert und frustriert den „Quoten-Ossi“, wie sich der in Ost-Berlin geborene Scheel scherzhaft nennt, gleichermaßen. Dass aus den Erlebnissen Comics werden, in denen auch der Erzähler selbst als Figur mit auftaucht, ist für Scheel Teil des Frustabbaus. Zeichnen als Therapie: „Das Schöne ist: Es funktioniert! Ich habe lange nicht mehr beim Zeichnen einen derartig befreienden Moment erlebt.“ So trifft Scheels Comic-Alter-Ego in einer Episode auf schnöselige Kellner, die sich für so weltläufig halten, dass sie auch ihre deutschen Kunden nur noch auf Englisch ansprechen (zu der Bildstrecke geht es hier), oder auf einen kuriosen Briefmarkenverkäufer, der die Servicedefizite der Post durch privaten Einsatz ausgleicht (den Strip findet man hier).

Ich-Erzähler: In seinen Strips tritt Ulrich Scheel auch selbst auf.
Ich-Erzähler: In seinen Strips tritt Ulrich Scheel auch selbst auf.

© Illustration: Scheel

Diese Strips sind nach langer Pause mal wieder eine Gelegenheit, das große Talent eines bemerkenswerten Comic-Erzählers zu erleben, der vor zweieinhalb Jahren mit der meisterhaften Erzählung „Die sechs Schüsse von Philadelphia“ auf sich aufmerksam machte. Das in Brandenburg spielende 240-Seiten-Drama mit psychologischem Tiefgang erzählt auf ungewöhnlich berührende Weise von vier gelangweilten Jugendlichen, einem Revolver und sechs Kugeln (Avant-Verlag, 19,95 Euro, mehr unter diesem Link). Da sich von Comics allerdings in der Regel kaum die Miete zahlen lässt, hat Scheel seit seinem vielgelobten Graphic-Novel-Debüt vorerst keine weiteren eigenen Comicprojekte verfolgt, sondern erledigt primär kommerzielle Auftragsarbeiten, Storyboards und ähnliches für Firmenkunden.

„Sehr schick! Aber… das bin ja ich?!“

Zum Zeichnen war Scheel einst über Schülerzeitungen und eigene Comic-Magazine gekommen, die er zuhause am Thermokopierer vervielfältigte, wie er berichtet. Nach Ausflügen in die Fotografie, den Film und einer Ausbildung beim Fernsehen setzte er während des Studiums an der Kunsthochschule Weißensee das Zeichnen fort. Sein erster Erfolg war „Influenza“, ein surrealer Comic über einen Fiebertraum, ganz ohne Text. Dann folgten weitere Bücher, die in Frankreich veröffentlicht wurden – „was immer keiner versteht, aber es hat sich zufällig so ergeben“, wie Scheel sagt. Seine Diplomarbeit an der Kunsthochschule Weißensee war dann besagtes „Die sechs Schüsse von Philadelphia“, das der „Interessenverband Comic“ (ICOM) im vergangenen Jahr als besten Independent-Comic des Jahres auszeichnete. Scheels Bücher sind käuflich auf seiner Website zu erwerben.

Zuletzt konnte man seinen charakteristischen Strich auch in Stephan Serins Buch „Föhn mich nicht zu“ sehen, das im September bei Rowohlt erschienen ist. Dafür schuf Scheel das Cover und die Innenzeichnungen. Das Buch sagt Scheel auch persönlich zu: „Es verbindet ein ernstes Thema, nämlich Schule und Lehrer in Berlin, mit wunderbarem Humor.“ Dazu kommen gelegentlich Presseillustrationen, so sind in der Dezember-Ausgabe von „Das Magazin“ einige Zeichnungen von ihm zu sehen. Ein eigenes Comicbuch wäre erst wieder denkbar, wenn Ulrich Scheel einen spendablen Mäzen oder ein Stipendium fände.

Bis dahin muss man sich mit den kleinen Prenzlauer-Berg-Episoden auf seiner Website begnügen. Darin können sich so manche Berliner Leser wieder erkennen, das zeigt ein Leserkommentar auf Ulrich Scheels Website: „Sehr schick! Aber… das bin ja ich?! Ah, neee, Gottseidank: Ich wohn ja in Mitte.“

In unserer Reihe „Stadtbilder - neue Comics aus Berlin" haben wir zuvor Kolja Wilckes Variation der Loreley-Ballade (mehr dazu hier), die autobiographische Erzählung „Paffy" von Michael Schröter (mehr dazu hier) sowie Ulla Loges Kurzgeschichtensammlung „Morgengrau" (mehr dazu hier) vorgestellt.

Wer weitere Comics kennt, die in unsere Reihe passen würden, kann uns eine Mail an comics@tagesspiegel.de schicken. Einsendungen per Post an Lars von Törne, Der Tagesspiegel, Askanischer Platz 3, 10963 Berlin.

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