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Untergrund-Kunst: Im Berliner U-Bahnhof Bernauer Straße erinnern Comic-Panels an die Mauerjahre.

© Doris Spiekermann-Klaas

Berlin im Comic: Mit Zeichnern auf Zeitreise

Weltkrieg, Luftbrücke, Mauerzeit: Neue Comics illustrieren die Berliner Geschichte. Im U-Bahnhof Bernauer Straße gibt es eine Ausstellung, eine Tagung widmet sich der NS-Aufarbeitung.

Schneewittchen und die sieben Zwerge bringen den Tod. Nacht für Nacht fliegt der Lancaster-Bomber der britischen Armee, dem seine aus sieben Soldaten bestehende Besatzung den Spitznamen „Snow White“ gegeben hat, aus England Richtung Osten und wirft seine tonnenschwere Fracht über Berlin und anderen deutschen Städten ab – bis eines Nachts im Sommer 1943 etwas schiefgeht.

So beginnt die Comic-Erzählung „Berlin“ des belgischen Autors und Zeichners Mark van Oppen, Künstlername Marvano. In dieser Woche ist sein dreibändiges Historiendrama auf Deutsch erschienen (Ehapa Comic Collection, 176 S., 30 €). Darin verbindet der 1953 geborene Erzähler reale Ereignisse und fiktive Elemente aus den Jahren 1943, 1948 und 1961 zu einem politischen Thriller, bei dem Berlin im Zentrum steht. Die Stadt, die er selbst nur von Kurzbesuchen in den 70er und 80er Jahren kennt, ist für Marvano ein Schlüssel zum Verständnis des 20 Jahrhunderts, wie er sagt: „In Berlin nahm ein entscheidender Teil der Geschichte des 20. Jahrhunderts Gestalt an: Zwei Weltkriege gingen von hier aus, die Wannseekonferenz fand hier statt, die Stadt war die vorderste Linie im Kalten Krieg.“

Immer öfter arbeiten Erzähler die Geschichte der Stadt in Comicform auf oder benutzen sie als Folie für fiktive Erzählungen. So siedelten der britische Autor Antony Johnston und der Zeichner Sam Hart jüngst ihren noch nicht auf Deutsch erschienenen Spionagethriller  „The Coldest City“ in Berlin an, in den vergangenen Jahren erschienen Dutzende weitere grafische Erzählungen, die in die Berliner Vergangenheit eintauchen.

„Aus der Geschichte können wir eine Menge für die Gegenwart lernen“, erklärt „Berlin“-Autor Marvano das 23 Jahre nach dem Mauerfall ungebrochene Interesse an der Vergangenheit der Stadt. Im Zentrum seiner Geschichte stehen die Erlebnisse alliierter Soldaten in Berlin. Einer ist der fiktive Pilot Roy Stuart, der dem „Rosinenbomber“ Gail Halvorsen nachempfunden ist. Dessen Comic-Alter-Ego bringt über die Luftbrücke 1948 nicht nur Lebensmittel, sondern verdingt sich nebenbei als Schmuggler zwischen Ost und West. Als er auf eine Bande fanatisierter Kinder trifft, die dem Nazi-Reich nachtrauern, und überdies in den Kampf der Siegermächte um die Vorherrschaft in der Ruinenstadt verwickelt wird, überschlagen sich die Ereignisse.

Berliner Geschichten: Der Belgier Marvano erzählt in seiner Graphic Novel „Berlin“ von der Luftbrücke.
Berliner Geschichten: Der Belgier Marvano erzählt in seiner Graphic Novel „Berlin“ von der Luftbrücke.

© Illustration: Promo

Im letzten Teil der Trilogie erzählt Marvano dann in Rückblicken auf das Jahr 1961 vom Mauerbau, von Fluchtversuchen und der Rolle, die ein weiterer fiktiver alliierter Soldat dabei spielte. Dazwischen schiebt der Belgier immer wieder erklärende Passagen ein, die die politischen und historischen Hintergründe erläutern. Das macht die Lektüre seines zeichnerisch an Comic-Klassiker wie „Blake & Mortimer“ oder „Tim und Struppi“ erinnernden Buches zu einem anregenden Erlebnis, auch wenn der Lesefluss durch die wie ein Puzzle miteinander verknüpften Elemente öfter ins Stocken kommt.

Geschichte und Gegenwart verbindet auch ein anderes aktuelles Comicprojekt: Von dieser Woche an sind im U-Bahnhof Bernauer Straße gezeichnete Episoden von Susanne Buddenberg und Thomas Henseler über den „Tunnel 57“ zu sehen, einen Fluchttunnel, durch den 57 Menschen im Oktober 1964 von Ost nach West fliehen konnten. Auf 14 metergroßen Comic-Tafeln erzählen die Autoren, die vor kurzem auch den Band „Berlin – Geteilte Stadt“ mit gezeichneten Mauer-Episoden veröffentlicht haben, die dramatische Geschichte des Fluchthelfers Joachim Neumann, der seine Freundin in den Westteil schmuggelte.

Eiskalt: Der Thriller „The Coldest City“ - hier ein Sezenbild - spielt gegen Ende des Kalten Krieges.
Eiskalt: Der Thriller „The Coldest City“ - hier ein Sezenbild - spielt gegen Ende des Kalten Krieges.

© Illustration: Oni Press

Wie bedeutsam das Medium inzwischen für die Vermittlung historischer Themen geworden ist, zeigen auch eine Ausstellung und eine Fachtagung zum Thema „Holocaust im Comic“ kommende Woche im Archiv der Jugendkulturen (Fidicinstr. 3, Berlin-Kreuzberg). Die Ausstellung läuft vom 8. Oktober bis 2. November, am 9. Oktober von 15 bis 20 Uhr diskutieren Experten, ob und wieweit Comics wirklich das geeignete Medium für die Vermittlung derartiger Inhalte sind.

„Berlin“-Autor Marvano zumindest hofft, dass sein Buch vor allem jüngeren Lesern ein Verständnis für die Bedeutung der Historie vermittelt: „Eine Graphic Novel kann gerade bei Jüngeren das Interesse auslösen, mehr über die Vergangenheit zu erfahren“, sagt er. „Denn 99 Prozent der Welt, in der sie leben, ist durch die Vergangenheit bestimmt – ob es ihnen gefällt oder nicht.“

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