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Charlie Brown & Co.: Böse Kinder, heillose Welt

17 897 Strips in 50 Jahren: Eine Werkausgabe feiert den „Peanuts“-Schöpfer Charles M. Schulz

Die Welt ist nicht in Ordnung, das ahnt Charlie Brown bereits früh. Im November 1950, da gibt es ihn überhaupt erst seit ein paar Wochen, zeigt ihm ein älterer Junge einen Globus. „Siehst Du?“, sagt der Junge. „Das ist der Beweis, unsere Erde ist rund wie ein Ball.“ „Wie ein Basketball?“, fragt Charlie. „Klar, genau wie ein Basketball“, versichert der Junge. Aber Charlie Brown bleibt skeptisch: „Das glaube ich nicht.“ „Warum?“ – „Keine Nähte!“

Die Erde, so wie Charlie Brown sie erlebt und erleidet, ist nicht nur eine Scheibe, sie ist auch kein sehr angenehmer Ort. Dieser Junge, der mit seiner Neigung zu altklugem Philosophieren eher wie ein in einem Kinderkörper eingesperrter Erwachsener wirkt, verkörpert wie keine andere literarische Figur des 20. Jahrhunderts die Angst vor Versagen und Ausgestoßensein. Er fürchtet sich, obwohl gerade einmal im Grundschulalter, vor dem Älterwerden, wenn ihm Lucy den Baseball zum Kicken hinhält, zieht sie ihn garantiert im letzten Moment wieder weg, und natürlich wird er sich niemals trauen, das kleine rothaarige Mädchen anzusprechen, in das er unsterblich verliebt ist. Seine früheste Prägung ist eine Erfahrung der Ablehnung. Im allerersten „Peanuts“-Strip, erschienen am 2. Oktober 1950, unterhalten sich zwei auf einer Treppe hockende Kinder über den vorbeischlendernden Charlie Brown. „Da kommt der alte Charlie Brown!“, sagen sie. „Unser guter, alter Charlie Brown, jawoll!“ Die Punchline , die Pointe im vierten Bild lautet: „Wie ich ihn hasse!“

Bei seinen ersten Auftritten sieht Charlie Browns Kopf noch nicht so ballonförmig aus wie später, er erinnert in seiner ovalen Form eher an eine quergelegte Zitrone. Sein berühmtes T-Shirt mit dem gezackten Balken trägt er erst ab dem 12. Dezember 1950, am 3. Dezember 1952 wird ihm zum ersten Mal nachgesagt, „furchtbar wischiwaschi“ zu sein, am 6. April 1953 schlägt ihm zum ersten Mal ein Baseball den Hut vom Kopf. Das mögen Details sein, aber es sind entscheidende Details in der Genese des „Peanuts“-Kosmos, von denen man sich nun in einer epochalen Comic-Edition überzeugen kann.

Gerade sind die ersten beiden Nummern einer auf 25 Bände angelegten Werkausgabe erschienen, die bis ins Jahr 2018 sämtliche 17 897 Strips versammeln soll, die Charles M. Schulz, der Schöpfer der Reihe, von 1950 bis zu seinem Tod im Februar 2000 gezeichnet hat. Die monumentale Edition ist die angemessene Würdigung für einen Mann, der im Alleingang einen der großen Zyklen der amerikanischen Kunst erschaffen hat, vergleichbar allenfalls mit den Romanen Faulkners, den Gemälden Warhols oder den Songs von Hank Williams.

Während andere Comic-Serienhelden wie Micky Maus, Donald Duck oder Superman stets von einem Kollektiv von Textern und Zeichnern erschaffen wurden, setzte sich Schulz tagtäglich an seinen Zeichentisch, um, ausgerüstet bloß mit einer Krähenfeder, Tusche und Kartonpapier der Marke „Strathmore“, einen neuen Strip zu produzieren. Seine Bildgeschichten wurden in Amerika von Zeitungen mit einer Gesamtauflage von 150 Millionen Exemplaren gedruckt, die Sammelbände verkauften sich, übersetzt in 26 Sprachen, weltweit mehr als 355 Millionen Mal. Der Romancier Jonathan Franzen hat Schulz vor kurzem im „New Yorker“ als „größten Künstler auf diesem Planeten“ gefeiert.

Wer in Charlie Brown, dem ewigen Verlierer, ein verkapptes Selbstporträt seines Schöpfers vermutet, findet in der Werkausgabe reichlich biografische Belege. „Ihr wisst nicht, wie es ist, als Sohn eines Friseurs aufzuwachsen!“, ruft Charlie Brown einmal, konfrontiert mit unerfüllbaren Konsumwünschen, aus. Charles M. Schulz wurde 1922 in St. Paul, Minnesota, geboren, sein von deutschen Einwanderern abstammender Vater betrieb einen Frisiersalon, dessen Miete er während der Großen Depression nicht mehr bezahlen konnte. Aber die Familie kam immer wieder auf die Beine, am Wochenende verschlang man wegen der Comicseiten sechs Tageszeitungen. Charles bekam den Spitznamen „Sparky“, nach einem Pferd in dem Comic „Barney Google“. Er war schüchtern und nicht sehr sportlich. „Ich fand mich nie besonders toll, auch nicht besonders gut aussehend“, sagte er später in einem Interview. „Während meiner Schulzeit habe ich mich nie mit einem Mädchen verabredet, weil ich dachte, wer trifft sich schon mit mir.“

Aber Schulz hatte ein Talent: Er konnte zeichnen. Seine Eltern finanzierten ihm ein Fernstudium an einer Kunsthochschule, bald darauf verkaufte er Cartoons an die legendäre, durch Norman Rockwells Titelbilder berühmt gewordene „Saturday Evening Post“. Jemand riet ihm, „mehr von diesen kleinen Kindern“ zu zeichnen, die oft am Rande seiner Cartoons auftauchten. Also entwickelte Schulz eine Comic-Reihe, die er „Li’l Folks“, kleine Leute, nannte.

Als die Serie dann aber in der „St. Paul Pioneer Press“ erschien, hatte ein Redakteur den Titel in „Peanuts“, Erdnüsse, geändert. Ein verniedlichender Name, den Schulz gehasst hat, zeitlebens stellte er sich lieber vor als „Zeichner des Comic-Strips, in dem Charlie Brown und sein Hund Snoopy vorkommen“. Erwachsene existieren nicht in der Welt der Peanuts, es gibt nur eine einzige Szene aus dem Mai 1954, in der sich Charlie Brown und Lucy bei einem Golfturnier plötzlich von Erwachsenen-Beinen umstellt finden, und in den ab 1965 produzierten Trickfilmen werden die Stimmen der Eltern durch Trompetengeräusche wiedergegeben. Das heißt aber nicht, dass die Peanuts Kinderkram wären. „Diese Kinderwelt ist nicht heil, und sie wird mit jedem Neuzugang immer heilloser“, schreibt Robert Gernhardt im Vorwort zum ersten Band der Werkausgabe.

Neuzugänge: Schroeder spielt ab Mai 1951 auf seinem Miniaturklavier, erstaunlicherweise erst einmal Brahms statt Beethoven, im März 1952 wird Lucy geboren und ist zunächst noch ein liebes Baby, im September 1952 hockt Linus zum ersten Mal auf seiner Schmusedecke, die es als „Security Blanket“ sogar zur stehenden Redewendung bringen wird. Die Peanuts sind Grübler und manchmal auch Sadisten, ihre Geschichten, die von den Ich-Zweifeln einer selbstbewussten Nation handeln, nehmen im Eisenhower-Amerika den Zeitgeist der Woodstock-Ära um mehr als ein Jahrzehnt vorweg. Den Gipfel ihrer Popularität erreichen sie folgerichtig um 1969, als die Mondfähre der Apollo 10 auf den Namen „Snoopy“ getauft wird.

Der Erfolg machte Charles M. Schulz nicht glücklicher. „Mein ganzes Leben war von Zurückweisung geprägt“, sagte er. Sein Alter Ego Charlie Brown beschreibt das Gefühl der Isolation mit einem ähnlichen Seufzer. Auf die Frage, ob er gerne Abraham Lincoln gewesen wäre, antwortet er: „Eher nicht. Es ist schon schwer genug, Charlie Brown zu sein.“

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