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Schwieriges Experiment: Eine Seite aus „Wie ich versuchte, ein guter Mensch zu sein“.

© Suhrkamp

Comic-Autobiografie: Was Leiden schafft

Schwelgerische Bilder, schmerzhafte Reflexion: In „Wie ich versuchte, ein guter Mensch zu sein“ verarbeitet Ulli Lust eine komplizierte Dreiecksbeziehung.

„Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens“ – dieses dekonstruierte Mantra der Lebenslust zierte 2009 ein grellrotes Comic-Cover. Das Buch mit dem energischen Titel wurde ein Überraschungserfolg. In der französischen Comic-Kritik feierte man die aus Österreich stammende und in Berlin lebende Autorin Ulli Lust als neue Hoffnungsträgerin für das konventionell gewordene Genre der Comic-Autobiografie. Nicht glattgebügelt, unglamourös in Form und Inhalt, radikal wie ihre jugendlichen Protagonistinnen: Mit diesen Attributen überzeugte die grafische Nacherzählung eines ereignisreichen Road-Trips (mit „Trip“ im doppelten Sinne).

Stark kondensiert liest sich der Plot in etwa so: Abenteuerlustig, ohne Geld und reichlich naiv reisen Ulli und ihre Freundin in das Italien der achtziger Jahre – das Meer ist das konkrete, der Weg das eigentliche Ziel. Von den prägenden Erlebnissen dieser Wanderung – oder besser Irrfahrt – erzählt der Comic: nicht nur von Freundschaft und Freiheit, sondern auch von Drogensucht, mafiösen Strukturen, Sexismus und sexueller Gewalt.

Zwischen Küchen-Kruzifixen und Weinreben

Acht Jahre später folgt nun Teil zwei der als Trilogie angekündigten autobiografischen Erzählung: „Wie ich versuchte, ein guter Mensch zu sein“. Ulli ist ein paar Jahre älter geworden, sie trägt die Haare lang und eine Brille. Dass Ullis Leben auch ohne den Punk-Look absolut unkonventionell ist, wird schon in der Eingangssequenz deutlich: Wir sehen Ulli und ihren Freund im Auto, unterwegs zu Ullis Familie auf dem Land. Georg soll nicht nur Mutter, Vater, Oma, sondern auch Ullis 5-jährigen Sohn kennenlernen, der bei den Eltern der Autorin lebt.

Während der Fahrt kommt es zum Streit, als Ulli Georg mitteilt, dass sie einen von der Abschiebung bedrohten Kurden heiraten wird. Georg reagiert entsetzt: nicht wegen der Heiratspläne, sondern wegen des Geldes, das sie für die Scheinehe erhalten soll. In der Dorfidylle des Pulkautals, zwischen Küchen-Kruzifixen und Weinreben, kommt dann aber alles wieder in Ordnung. In trauter Zweisamkeit am Fenster vereint, raucht, blickt und kontempliert das Liebespaar Richtung Mondenschein.

Das Cover des besprochenen Buches.
Das Cover des besprochenen Buches.

© Suhrkamp

Geheiratet wird dann später tatsächlich auch noch, ein bisschen aus Zweck und ein bisschen aus Liebe. Der zukünftige Ehemann heißt aber nicht Georg, sondern Kimata. Ulli folgt dem Ruf ihrer Libido. Die Beziehung zu Georg hat sexuell wenig zu bieten; insofern will Ulli von dem jungen Nigerianer zunächst nur Sex. Aber: Dieser ist zu gut, die beiden können nicht voneinander lassen. Aus dem One-Night-Stand wird eine Dreiecksbeziehung.

Bekenntnisse einer Zweifelnden

Die Intensität der erotischen Anziehungskraft fasst die Autorin in mutig-explizite und schwelgerische Bilder, deren räumliche Ausdehnung, Variation und Häufigkeit sich von dem gleichmäßigen Panel-Raster der Resterzählung abheben. Sie illustriert aber auch, wie schwierig das Experiment doppelte Liebesbeziehung ist, wie sich immer wieder auch kulturelle Barrieren auftun und wie es schließlich zu Gewalt kommt.

Dieses Buch ist vieles: eine Abrechnung mit der Asylpolitik, eine Gegenüberstellung von Stadt- und Landleben, ein Künstlerinnenroman, der Ullis Weg zwischen Kaffeehaus-Ausstellung und Berliner Kunsthochschule zeigt, eine Ode an die Lust, ein Nachdenken über kulturelle Prägungen, ein Porträt über alternative Familien- und Beziehungsmodelle, die Bekenntnisse einer Zweifelnden, kurzum: ein autobiografischer Comic, der dieses Label völlig zu Recht trägt und zeigt, dass ernst gemeinte Autobiografie eine oft schmerzhafte Reflexion impliziert.

Ulli Lust: Wie ich versuchte, ein guter Mensch zu sein, Suhrkamp, 367 Seiten, 25 Euro.

Lesung: Freitag, 20.10.2017, 20 Uhr, Modern Graphics, Kastanienallee 79, 10435 Berlin, anschließend Signierstunde

Marie Schröer

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