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Rätselhafter Charakter: Gardel in einer Szene aus dem Buch.

© Reprodukt

Comic-Biografie „Carlos Gardel“: Tango in harten Kontrasten

Komplex verschachtelte Biografie oder grafisches Gedicht? Das berühmte argentinische Comic-Duo Muñoz-Sampayo erzählt in berauschenden Bildern von der geheimnisumwitterten Tango-Legende Carlos Gardel.

Die Figur auf dem Cover lehnt halb im Schatten, halb im Licht, die Augen sind unter einem weißen Hut verborgen. Hat der Mann etwas zu verbergen? Ein Bild wie aus einem Gangsterfilm. Doch der Mann, um den es hier geht, stand lange im Spot der Scheinwerfer, um sein Leben ranken sich Mythen: Carlos Gardel, der größte Star, den der Tango je hervorbrachte, zugleich ein Neuerer dieser Musikrichtung (er prägte den Tango canción) zu seiner Zeit, in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts. Sein blendendes Aussehen, seine Kompositionen und vor allem sein einzigartiger Gesang machten ihn für lange Zeit zum Idol seines Landes Argentinien, aber auch des ganzen Kontinents. Sein früher Tod 1935, mit Mitte Vierzig durch ein Flugzeugunglück, ließ ihn endgültig zur Legende werden. Gibt es dunkle Geheimnisse, ja: Schatten auf der weißen Weste des Sängers mit dem Latin-Lover-Charme?

In der Tradition der Comic-Avantgarde

Die gezeichnete Biografie des Sängers wurde von einem Traumpaar des internationalen Comics verfasst, dem Zeichner José Muñoz und dem Autor Carlos Sampayo, zwei Argentiniern (geb. 1942  und 1943), die ihr Land Anfang der 70er Jahre aus politischen Gründen verließen, sich aber erst 1974 in Spanien kennenlernten und seitdem zuerst für italienische, später dann vor allem für französische Comicmagazine zusammenarbeiteten – allesamt heute legendäre Zeitschriften: „Sgt. Kirk“, „Charlie mensuel“, „A suivre“. Eine bis heute anhaltende kreative Partnerschaft. Ihre bekannteste Serie spielt im Gangstermilieu New Yorks: „Alack Sinner“. So heißt der desillusionierte Bulle mit dem zerfurchten Gesicht, seine raue Welt wurde von José Muñoz in den wohl härtesten schwarzweißen Kontrasten wiedergegeben, die es im Comic gibt – Sinner selbst ertrug sie nur mit jeder Menge Whisky, den er in „Joe´s Bar“ (Titel eines Spin-Offs um den Barkeeper) versoff.

Bereits damals entwickelte José Muñoz seinen charakteristischen Stil: ein Spiel mit Licht und Schatten wie in den perfekt ausgeleuchteten alten Hollywood-Gangsterstreifen der 30er und 40er Jahre. Dabei beruht er auf der langen, reichen Tradition des wohl wichtigsten Comiclandes Südamerikas. Eine Tradition der Avantgarde, denn aus Argentinien kamen einige der innovativsten Zeichner, die vor allem in den 60er Jahren ihren Stil entwickelten, allen voran Alberto Breccia und Hugo Pratt (der Italiener verbrachte lange Jahre in Argentinien, weil er dort bessere Arbeitsbedingungen vorfand). José Muñoz ist ein direkter Schüler der beiden, wie Pratt arbeitet er fast ausschließlich mit schwarzer Tusche, die er meist mit dem Pinsel aufträgt, und wurde deshalb schon früh mit den deutschen Expressionisten verglichen. Carlos Sampayo ist als Szenarist der kongeniale Partner im Team, der Geschichten auf offene, experimentelle, nicht immer lineare Weise zu erzählen versteht, und damit den Leser oft fordert, die Geschichten zu hinterfragen. Genre-Klischees umschifft Sampayo gerne mit erzählerischen Brüchen.

Andeutungen, Aussparungen, gezielte Pinseltupfer: Eine Seite aus dem Buch.
Andeutungen, Aussparungen, gezielte Pinseltupfer: Eine Seite aus dem Buch.

© Reprodukt

Musik thematisieren die beiden nicht das erste Mal, bereits 1990 erschien die Comic-Biografie „Billie Holiday“ über das gar nicht glamouröse, harte Leben der Jazz-Ikone. Sampayo, der auch Kritiker von Jazzmusik ist, flocht dabei überzeugend die Themen Rassismus und Alkoholismus ein, mit denen die schwarze Sängerin zeit ihres Lebens zu kämpfen hatte. Außerdem schrieb Sampayo das Szenario zu „Fats Waller“ (erschienen 2004/5) für den italienschen Zeichner Igort, in dem er die Karriere des bedeutenden Jazzpianisten und -komponisten eigenwillig mit der Zeitgeschichte verbindet, vor allem mit dem Aufkommen des Faschismus in Europa. Ein gewagtes Storykonstrukt mit spekulativen Elementen, das aber trotzdem in Verbindung mit den vom Art Déco inspirierten Bildern Igorts als Gesamtkunstwerk überzeugt.

 Ein rätselhaftes Verhältnis zu den Frauen

Nun also Gardel. Mit dem Porträt der Tango-Legende wagt sich das Team an ein Nationalheiligtum. Die Geschichte pendelt zwischen Gegenwart und Vergangenheit hin und her. Gardel wird (neben einigen Flashbacks in seine Kindheit und Jugend) vor allem als reicher, umworbener Star auf dem Höhepunkt seiner Karriere Anfang der 30er Jahre gezeigt. Zusammen mit seinem Freund und Songtexter Alfredo Le Pera begibt er sich nach New York, um seine Hollywood-Karriere aufzubauen, und wird auch als Filmstar gefeiert. Rätselhaft bleibt sein Verhältnis zu den Frauen – er hat eine Verlobte, die er nie trifft, begegnet zahlreichen Frauen, ohne dass Affären konkret belegt sind, pflegt ein intensives Verhältnis zu seiner Mutter – die möglicherweise gar nicht seine leibliche ist. Selbst sein Geburtsort ist umstritten – vermutlich wurde er in Toulouse in Frankreich geboren, oder auch in Uruguay.  Diese und andere ungeklärte Fragen wie seine dubiosen Beziehungen zu Politikern, Gangstern und Anarchisten, werden aus der Perspektive einer fiktiven Talkshow des Jahres 2000 beleuchtet, wo sich zwei Gardel-Experten verbissen über die Legende streiten – war er schüchtern oder schwul, ein Spieler, ein rücksichtsloser Opportunist ohne Gewissen, stand er gar den Kommunisten nahe, oder war er schlicht nur ein lackaffiger Galant mit Pomade im Haar?  

Der bisweilen haarsträubend pingelige Zwist der beiden greisen Intellektuellen artet gelegentlich in Geschwätz aus. Auch springt die Handlung wild hin und her zwischen verschiedenen Lebensabschnitten und Talkshowszenen, sodass eine flüssige Lektüre kaum möglich scheint. Der dekonstruktivistische Ansatz Sampayos, Gardels Leben in viele Splitter zu zerlegen und im Kopf des Lesers ein großes, unvollständiges Puzzle entstehen zu lassen, gelingt also nicht ganz, da zu viele Details den Blick aufs Ganze behindern. Aber vielleicht ist das die narrative Entsprechung zum dynamisch wechselnden Tango-Takt?

Die Autoren möchten Gardel in all seiner Rätselhaftigkeit wiederauferstehen lassen. Doch dadurch bleibt Gardel als Charakter etwas blass, vielleicht, weil er auch in Wirklichkeit ein Mann ohne Eigenschaften war - oder schlichtweg ein Geheimniskrämer, der seinen eigenen Mythos pflegte (so trug der Sänger u.a. den Spitznamen „der Stumme“). Kein nachweisbarer Schatten legt sich auf ihn, jede Kritik perlt an seiner glatten Oberfläche ab, zumal Muñoz ihn gemäß den alten Fotografien und Filmaufnahmen leicht idealisiert, zumeist mit dem charakteristischen Zähneblecken, das Haar pomadig glänzend, nie ernsthaft schwermütig oder gar aus der Rolle fallend.

Licht und Schatten: Das Cover des besprochenen Buches.
Licht und Schatten: Das Cover des besprochenen Buches.

© Reprodukt

Seine dunkle Seite wird der geheimnisvollen, düsteren Spiegelfigur „Merval“ überlassen, ebenfalls Sänger und Komponist, aber unbekannt und als Imitator Gardels verachtet. Merval wird zum veritablen Schatten der Titelfigur, der ihr überallhin zu folgen scheint, und im hohen Alter als Zuschauer der Talkshow wieder auftaucht, damit prahlend, Gardel ermordet zu haben, im Gegensatz zur herkömmlichen Version, dass er 1935 bei einem Flugzeugzusammenstoß in Kolumbien ums Leben gekommen war. Eine von vielen Verschwörungstheorien um seinen frühen Tod? Weitere zwielichtige Charaktere treten auf, manche geheimnisumwitterte schöne Frau, Persönlichkeiten der Musikszene wie Duke Ellington oder Azucena Maizani - ihre Rollen bleiben schemenhaft vage, ebenso wie wichtige Weggefährten Gardels wie der Dichter Alfredo Le Pera Staffage bleiben.

Eher ein Gedicht als eine Biografie

Vor allem José Muñoz´ Arbeit überzeugt in seiner beispiellosen Eleganz: auf nahezu jeder Seite flirrt das Licht geradezu, Andeutungen, Aussparungen, gezielte Pinseltupfer hie und da genügen dem Zeichner, um eine Stimmung, ja, eine Vision der 30er Jahre zu erschaffen. Die einzelnen Panels sind wunderschön und detailreich - vor allem in den Nachtclub- und Straßenszenen lassen sich unzählige Figuren entdecken, Typen, die die damalige Vielfalt der Gesellschaft treffend wiedergeben und, wie in die realistische Szenerie hineingeschmuggelt, groteske Cartoonfiguren im Stil der Zeit.

Eher mit einem Gedicht vergleichbar als mit einer Biografie, gelingt es den beiden Autoren, eine von wirtschaftlichem Wachstum, politischen Wirren und Korruption geprägte Epoche im Schmelztiegel Argentinien wiederauferstehen zu lassen, wo es aus der Armut kommenden Talenten wie Carlos Gardel gelang, einen neuen Musikstil zu kreieren, dessen Beliebtheit bis heute anhält.

„Carlos Gardel“ ist vor allem ein üppiges Fest fürs Auge. Am besten man legt zur Lektüre eine CD, oder besser: eine knisternde Schallplatte mit Originalaufnahmen von Carlos Gardel auf – und genießt.

Carlos Sampayo, José Muñoz: Carlos Gardel – Die Stimme Argentiniens, 128 Seiten, 20 Euro, s/w, Reprodukt Verlag
Ebenfalls noch lieferbar:
Carlos Sampayo, José Muñoz: Billie Holiday, 64 S., 18,00 €, s/w. Edition Moderne
Carlos Sampayo, Igort: Fats Waller, 136 S., vierfarbig, SC, 20,00 €, avant Verlag

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