zum Hauptinhalt

Comic-Geschichte: Jugendsünden, Jugendfreuden

Sexfantasien des Superman-Schöpfers und ein unbekannter Peanuts-Vorgänger: Wie die nordamerikanische Comicszene ihre Vergangenheit neu entdeckt.

Er brauchte das Geld. Joe Shuster, einer der beiden Schöpfer Supermans, der wohl bekanntesten Comicfigur der Geschichte, muss ziemlich verzweifelt gewesen sein, als er Anfang der 1950er Jahre diesen Auftrag annahm. Kurz zuvor hatte er die juristische Auseinandersetzung um die Rechte an dem selbstlosen, stets für das Gute kämpfenden Superhelden verloren, den er und Jerry Siegel in den 30er Jahren geschaffen hatten, ohne ihre Urheberschaft juristisch abzusichern.

Da kam der Auftrag gerade recht, auch wenn es diesmal um etwas ging, das von den edlen Zielen Supermans kaum weiter entfernt sein könnte: Der Zeichner sollte ein gutes Dutzend sexuell expliziter und vor Gewalttätigkeiten strotzender Gruselhefte namens "Nights of Horror" illustrieren.

Das Ergebnis - 16 Ausgaben voller Zeichnungen halb und ganz nackter Männer und Frauen in anzüglichen oder offen sadistisch-masochistischen Posen - ging in kleiner Auflage unterm Ladentisch weg und erlangte nie größere Aufmerksameit, schon weil Shuster die damals illegalen Bildfolgen nicht mit seinem Namen zeichnete. Bis auf wenige Eingeweihte wusste niemand von der Schattenseite des Helden-Erfinders.

Die Bilder werden kontrovers diskutiert

50 Jahre später werden Shuster Schmuddelbilder in Nordamerika als die aufregendste Comic-Neuentdeckung der Saison gefeiert - und kontrovers diskutiert. Der schillernde Szene-Historiker Craig Yoe aus New York entdeckte eher zufällig eines der Shuster-Werke bei einem Ramschhändler.

Das weckte seinen Sammlerinstinkt, er setzte sich mit anderen Sammlern und Archiven in Verbindung - das Ergebnis ist ein auf edlem Papier gedruckter Sammelband mit allen Sexbildern aus der Feder des 1992 gestorbenen Superman-Zeichners. Titel: "Secret Identity". Dass die handwerklich perfekt ausgeführten Bilder von Shuster stammen, ist zwar durch keine Signatur belegt, aber Yoe und eine Reihe namhafter Comicexperten sind sich einig, dass es sich nur um Werke des Meisters handeln kann. Und das nicht nur, weil viele der männnlichen Akteure eindeutige Ähnlichkeit mit der bekanntesten Figur Shusters haben und die Frauen an Supermans Liebe Lois Lane erinnern.

"So wie man einen Kriminellen an seinem Fingerabdruck erkennt, können wir Shuster an seinem Strich erkennen - und der ist hier eindeutig", erzählt Comic-Chronist Yoe dem Tagesspiegel beim Gespräch auf dem Toronto Comic Arts Festival, für das kürzlich in der kanadischen Metropole Tausende nordamerikanischer Comicfans zusammenkamen.

Bemühte Laszivität, brutale Misshandlungen

"Es hat eine Weile gedauert, diese Büchlein aufzutreiben, denn die Regierung ist damals in den 50ern sehr aggressiv gegen solche Veröffentlichungen vorgegangen und hat viele Exemplare vernichtet", berichtet Craig Yoe, der mit einem langen Ziegenbart und seinen grauen Zottelhaaren selber ein wenig wie eine Underground-Comicfigur aussieht. "Shusters Arbeiten fielen genau in jene Zeit, als Comics sowieso als unmoralisch in der Kritik standen", erklärt ihr Herausgeber. Zusätzlich hat Yoe recherchiert, dass 1954 eine Gruppe von vier jungen Männern aus Brooklyn wegen einer Reihe sadistischer Morde vor Gericht kam - und sich bei ihren Taten unter anderem an Szenen aus "Nights of Horror" orientiert haben soll. Das brachte den Herausgeber der Hefte ins Gefängnis, aber der - anonyme - Zeichner kam ungeschoren davon.

Mit dem Abstand von 50 Jahren wirken viele der Bilder, die einst so schockierend waren, naiv in ihrer bemühten Laszivität; einige Szenen mit teils brutalen Misshandlungen der meist weiblichen Opfer sind aber auch heute noch verstörend. "Dieses Buch legt die dramatische Geschichte eines enthusiastische Künstlers offen, der der lesenden Öffentlichkeit eine ihrer größten Ikonen gab - um danach so desillusioniert und verzweifelt zu enden", schreibt eine andere noch lebende Comic-Ikone im Vorwort zu dem Buch,- der Spider-Man-Erfinder Stan Lee.

Der kahlköpfige Quälgeist ist ein Vorgänger Charlie Browns

Die zweite nordamerikanische Comic-Neuentdeckung des Jahres begann ebenfalls mit einem Zufallsfund in einer Bückerkiste beim Trödler.

275410_0_21ab6477.jpg
Kindertraum. Szene aus einem Strip vom März 1956.

© Illustration: Doug Wright/Drawn & Quarterly

Als der kanadische Zeichner und Grafiker Seth vor 20 Jahren ein paar antiquarische Zeitschriften aus den 50er Jahren kaufte, stieß er auf mehrere Folgen eines Comicstrips, der zu jener Zeit bereits in Vergessenheit geraten war: "Nipper" hieß er, was mit "Steppke" oder "Knirps" übersetzt werden kann. Die dynamischen Kurzgeschichten erzählten in jeweils vier bis sechs Bildern von den alltäglichen Streichen und Abenteuern eines kleinen Jungen mit rundem Kopf, dessen kindliche Weltsicht immer wieder mit der der Erwachsenen kollidiert. Die Strips stammten von Doug Wright, einem kanadischen Zeichner, der 1983 gestorben war und dessen Werk seit langem nicht mehr aufgelegt wurde.

"Diese Funde befeuerten meine ohnehin schon obsessive Sammelleidenschaft", erzählt Seth - bekannt als Autor mehrerer literarischer Comic-Erzählungen sowie als Herausgeber der derzeit laufenden, auf 25 Bände ausgelegten "Peanuts"-Gesamtausgabe - beim Gespräch in Toronto. Besonders angetan war Seth von der Tatsache, dass Wrights kahlköpfiger Quälgeist als eine Art Vorgänger von Charlie Brown und den Peanuts gesehen werden kann: "Nipper" erschien ab 1949 in kanadischen Zeitungen - rund eineinhalb Jahre vor dem ersten Peanuts-Strip.

Ein vergessener Meister wird neu entdeckt

Comic-Chronist Seth begann eine akribische Suche in Archiven und bei Buchhändlern. Nach fast 20 Jahren Arbeit legt er jetzt das Ergebnis seiner Detektivarbeit vor: Ein opulenter Sammelband mit einer umfassenden Auswahl aus den mehr als 1600 Strips, die Doug Wright im Laufe von 32 Jahren schuf. So können nachwachsende Leser einen Meister der Zunft neu entdecken, den Seth und seine Mitstreiter aus der kanadischen Comic-Community inzwischen auch mit einem jährlich vergebenen Doug-Wright-Preis für hoffnungsvolle Comiczeichner posthum ehren.

275411_0_d9c74a68.jpg
Elternangst. Szene aus einem Strip vom Juni 1956.

© Illustration: Doug Wright

Wrights präzise Pointen, die liebevollen Charakterisierungen vor allem seiner kindlichen Hauptfiguren und die manchmal ans Philosophische grenzenden Lehren aus kleinen Alltagsgegebenheiten erinnern tatsächlich stellenweise an die Peanuts. Vor allem aber geht es Seth darum, dass das großartige Werk eines lange vergessenen Meisters jetzt eine Renaissance erfährt.

Das sehen bei den wieder aufgetauchten Sex-Bildern von Joe Shuster übrigens nicht alle Fans des Superman-Zeichners so: "Manche seiner Anhänger sagen, ich hätte diese obszönen Zeichnungen lieber in meinem Garten verbuddeln sollen, statt sie zu veröffentlichen", sagt ihr Entdecker Craig Yoe mit einem breiten Grinsen.

Craig Yoe: Secret Identity - The Fetish Art of Superman's Co-Creator Joe Shuster. Abrams Comic Arts, 160 Seiten, rund 15 Euro. Mehr dazu unter
diesem Link.

Seth und Brad Mackay (Hg.): The Collected Doug Wright - Canada's Master Cartoonist. 240 Seiten im Coffee-Table-Format, Drawn & Quarterly, rund 34 Euro. Mehr über doe Doug Wright Awards unter
diesem Link.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false