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Vorsatzblatt für die Autobiografie "Ten Ever-Lovin’ Blue-Eyed Years with Pogo", 1959, Tusche auf Karton.

© Carsten Laqua, Pogo OGPI

Comic-Klassiker: Der Sumpf des Lebens

Der Comicstrip „Pogo“ ist eines der herausragenden Kunstwerke des 20. Jahrhunderts. Vor 100 Jahren wurde sein Schöpfer Walt Kelly geboren. In Deutschland muss er erst noch entdeckt werden.

Für viele Leser US-amerikanischer Comics ist die Fabel-Serie „Pogo“ einer der besten Strips überhaupt. Inhaltlich und zeichnerisch spielt er in einer Liga mit Charles Schulz’ „Peanuts“ und George Herrimans „Krazy Kat“. In diesem Jahr jährt sich der Geburtstag des Schöpfers der Reihe, Walt Kelly, zum hundertsten Mal. Er schuf den Strip, in dem die Erlebnisse der tierischen Bewohner eines Sumpfgebietes als Allegorie auf die menschliche Gesellschaft geschildert werden, im Jahr 1941. Zunächst als harmloser Kindercomic konzipiert, verwandelte ihn Kelly 1948 in einen Zeitungsstrip, der sich in seiner Vielschichtigkeit sowohl an Kinder, vor allem aber auch an Erwachsene wandte. Bis zu Kellys Tod im Jahr 1973 wurde die mit satirischen Anspielungen auf aktuelle soziale und politische Themen durchsetzte Serie in hunderten US-Zeitungen abgedruckt, Kelly wurde ein weit über die Comicszene hinaus gefeierter Star. In Deutschland ist „Pogo“ nie adäquat veröffentlicht worden. Anlässlich des 100. Geburtstags von Walt Kelly veröffentlichen wir ein Essay des Comicexperten, Autors und Galeristen Carsten Laqua („Wie Micky unter die Nazis fiel - Walt Disney und Deutschland“), um die herausragende Bedeutung dieser Reihe und ihres Schöpfers zu würdigen. Laqua ist der Initiator und Co-Autor des Buches „Walt Kelly: The Life and Art of the Creator of Pogo“, das kürzlich bei Hermes Press erschienen ist (244 Seiten, 39,90 Euro). Das Buch sowie zahlreiche „Pogo“-Originalzeichnungen gibt es auf der Website von Carsten Laqua (www.galerielaqua.de) zu kaufen.

Ein Zeichner oder Maler sitzt vor seinem Zeichentisch oder der Staffelei. Als vermeintlich freier Künstler schafft er jetzt, etwas Talent vorausgesetzt, ein Kunstwerk. Dabei scheint es keine Rolle zu spielen, dass er Beschränkungen unterliegt. Sei es, dass er, die eigene Eitelkeit befriedigend, um Anerkennung ringt, oder, von seiner Arbeit leben müssend, sich dem Geschmack des Auftraggebers oder gar eines Kunstmarktes anpasst. Und selbst die, denen es vergönnt ist, aus sich heraus halbwegs Originäres zu produzieren, brauchen zumindest fruchtbaren Boden, damit darauf fallende Werke irgendwann zur Kunst erhoben werden.

Ein anderer, vielleicht sogar derselbe Zeichner oder Maler sitzt vor seinem Zeichentisch oder der Staffelei. Er arbeitet für eine, wie auch immer geartete Publikation. Er produziert also in dem Bewusstsein, dass sein Werk reproduziert und veröffentlicht wird. Dann könnte seine Arbeit vielleicht von Millionen Menschen betrachtet werden. Talent kann man bei ihm voraussetzen. Dabei setzen Reproduktionstechnik, die Art der Publikation und der Geschmack der Kunden seiner Schöpfung Grenzen. Aufgrund dieser Beschränkungen unterscheiden Bildungsbürgertum, Museen und Kunstmarkt zwischen „Fine Art“ und „angewandter Kunst“. („High and Low“)

Titelbild für das Taschenbuch "Positively Pogo", 1957, Tusche auf Karton.
Titelbild für das Taschenbuch "Positively Pogo", 1957, Tusche auf Karton.

© Carsten Laqua, Pogo OGPI

Am Beispiel von „Pogo“ soll hier gezeigt werden, dass diese Unterscheidung willkürlich ist. Warum kann jemand, dessen Arbeiten reproduziert werden, nicht trotzdem großartige Kunst schaffen? Warum sollte er den ihm vorgegebenen Rahmen nicht nutzen können, um originäres, Stil prägendes zu schaffen? „Pogo“ ist ein künstlerisches Meisterwerk, das in den Comics seinesgleichen sucht und viele Werke so genannter „Fine Art“ in den Schatten stellt. Dabei ist „Pogo“ vielleicht der einzige Comic, der sowohl zeichnerisch als auch textlich und darüber hinaus in der Verbindung von Text und Bild jeweils ein großartiges Kunstwerk darstellt.

Als ersten Arbeitsschritt textete Walt Kelly nur ein grobes Skript. Erst beim Layouten auf dem Zeichenkarton Marke 3-ply Strathmore Bristol Board entwickelte er die visuelle Umsetzung der Geschichte. Das geschah mit blauem Farbstift, der auf der späteren Reproduktion nicht zu sehen ist. Von Anfang an wurden dabei die Sprechblasen ins Bild integriert. Kelly, Autor und Zeichner in einer Person, legte großen Wert auf Texte und Lettering. Als erstes wurden deshalb die Buchstaben getuscht. Ein feststehender Text, bei dem auf die Lesbarkeit in der verkleinerten Reproduktion geachtet werden muss, ist weniger variabel zu layouten als die Bilder.

Zum Tuschen der Figuren und Hintergrüne benutzte Kelly einen Pinsel von Windsor & Newton, zumeist in der Stärke No. 7. Der Pinsel ist beim Zeichnen sicher das am schwierigsten zu beherrschende Werkzeug. Gegenüber Stift oder Feder ermöglicht es dafür die größte Varianz bei der Breite der Linien. Dieses variieren der Dicke des Strichs innerhalb einer Linie ist das stärkste Ausdrucksmittel beim Comiczeichnen. Walt Kelly beherrschte es meisterhaft. Es sind vor allem diese Lebendigkeit und die Vielfalt der Gesichtsausdrücke, die die zeichnerische Qualität von „Pogo“ ausmachen. Auf Kellys Originalen ist übrigens immer wieder zu sehen, dass er beim Tuschen stark von der eigenen Vorzeichnung abwich. Solche Details zeigen, mit welcher Souveränität Kelly sein Metier beherrschte.

Walt Kelly (25. August 1913 – 18. Oktober 1973) an seinem Zeichentisch in den 50er Jahren.
Walt Kelly (25. August 1913 – 18. Oktober 1973) an seinem Zeichentisch in den 50er Jahren.

© Carsten Laqua, Pogo OGPI

Vollends beurteilen lässt sich Kellys Werk nur, wenn man die Bedingungen kennt, unter denen es entstanden ist. Die offensichtlichste Beschränkung, der jemand unterliegt, der für die Comicseiten von Zeitungen arbeitet, ist das Format der Veröffentlichung. Anfänglich zeichnete Kelly seine Tagesstreifen im Format 4.9 x 18.6 Inches (ein Inch entspricht 2.54 Zentimetern). In den 50er Jahren waren es zunächst 4.6 x 16.3 Inches bevor er in den späten 50er Jahren zum alten Format zurückkehrte. Veröffentlicht wurden diese Strips meist nur in einer Größe von 2 x 6.8 Inches bzw. ab September 1958 in 2.5 x 8.4 Inches. Eine derartige Verkleinerung in der Reproduktion zwingt den Zeichner natürlich, sich mit wenigen klaren Linien mitzuteilen. Dafür hätten Kellys Figuren gereicht. Dennoch steckte Kelly viel Arbeit in Details und Hintergründe. Vor allem durch die bizarre Sumpflandschaft des Okefenokee Swamp, der Heimat von Pogo & Co. schafft er eine besondere Atmosphäre. Seine Bäume mit ihren freiliegenden Wurzeln dienen dabei als gestaltendes Element. Mal sind sie Anfang einer Geschichte, mal ihr Ende, oder sie bilden am Rand den Rahmen, den offenen Bühnenvorhang für Kellys absurdes Theater.

Jenseits von Entenhausen

Neben dem kleinen Format der Veröffentlichung unterlag Walt Kelly weiteren wichtigen, aber nicht auf den ersten Blick erkennbaren Zwängen. So sind alle seine Tagesstreifen mittig geteilt, weil sie in manchen Zeitungen als Zweireiher veröffentlicht wurden. Schlimmer erging es Kelly aber beim Aufteilen seiner Sonntagsseiten. Gezeichnet hat er sie immer dreireihig im Halbseitenformat (16 x 23.5 inches). Da sie in kleinformatigen Zeitungen aber vornehmlich ganzseitig als Vierreiher veröffentlicht wurden, ergibt sich daraus ein recht starres Gerüst, innerhalb dessen er seine Panels anlegen musste. Jede „Pogo“-Sonntagsseite enthält genau in der Mitte ein quadratisches Panel, das bei der Veröffentlichung als Vierreiher wegfiel. Kelly integrierte darin also jeweils eine Szene, die zwar keine Wiederholung darstellte, die zum verstehen der Handlung aber auch nicht notwendig sein durfte. Und auch die anderen Panels einer solchen Sonntagsseite stellen kein freies Layout dar. In den drei Reihen des Halbseiten-Formates musste Kelly die Panelgrenzen so anordnen, dass vier gleichbreite Räume für die hochformatige Veröffentlichung entstanden.

Gerade mit dem Wissen um diese formalen Beschränkungen ist es umso erstaunlicher, wie meisterhaft Kelly seine Zeitungsstrips layoutet hat. Er beherrschte die Möglichkeiten des Erzählens in Bildern perfekt. Im Rahmen der hier beschriebenen Möglichkeiten nutzte er breite Panels, um Ruhe zu erzeugen, schmale Panels, um Pausen zu kreieren und so weiter. Noch mehr variierte er bei der Verteilung von Figuren und Hintergrund in den einzelnen Panels. Kelly verstand es, die jeweilige Bildfläche zu füllen. Seine Figuren stehen in ständiger Interaktion, oft ragen Details über die Panelgrenzen hinaus oder werden von den Rändern angeschnitten und scheinen so immer wieder den ihnen vorgegebenen Rahmen sprengen zu können. Letztlich zeigt sich die Vielseitigkeit von Kellys grafischem Talent auch darin, dass man beim Lesen seiner Strips die starren Grenzen, in denen er arbeiten musste, gar nicht bemerkt.

Pogo-Tagesstreifen vom 6. 3. 1968, Tusche auf Karton.
Pogo-Tagesstreifen vom 6. 3. 1968, Tusche auf Karton.

© Carsten Laqua, Pogo OGPI

Noch schwieriger als die Einschränkungen beim zeichnen müssen für Walt Kelly die Vorgaben gewesen sein, die für das Schreiben eines Zeitungscomic gelten. „Pogo“ stellte dabei eine besondere Herausforderung dar. Kellys Strip ist die seltene Variante eines Funny Strips, der am Ende jeder Folge eine Pointe enthält, gleichzeitig aber auch eine fortlaufende Geschichte erzählt. Dabei schrieb Kelly zwei Geschichten, die parallel, zum einen in den Dailies und zum anderen in den Sunday Pages liefen. Während Kelly in den Sundays überwiegend genialen Slapstick und Nonsens verbreitete, sind seine Dailies wesentlich politischer und voll beißender Satire. Letzteres führte of dazu, dass Redakteure, die Kellys liberale politische Einstellung nicht teilten, „Pogo“ entweder ganz aus ihrer Zeitung verbannen oder den Strip zumindest von den Comicseiten in den Politikteil verschieben wollten. Für diese kritischen Blätter schuf Kelly sogenannte „Bunny Strips“. In ihnen erzählte er eine politisch entschärfte Parallelhandlung. Redakteure konnten damit kritische Sequenzen ersetzen. Von all dem merkten ihre Leser nichts, denn Kelly sorgte für nahtlose Übergänge. All zuviel zeitlichen Vorlauf bis zur Veröffentlichung hatte er beim Zeichnen seiner Tagesstreifen allerdings nicht. So mussten bei Präsidentschaftswahlen, derer Kelly sich in seinem Strip regelmäßig annahm, dann kurzfristig Strips ausgetauscht werden, wenn in ihnen noch Kandidaten vorkamen, die überraschend frühzeitig ausgeschieden waren.

Ein weiterer wichtiger Punkt, den Kelly bei seinem story telling beachten musste, war die unterschiedliche Erscheinungsweise der Zeitungen. Manche erschienen nur an fünf statt sechs Wochentagen, einige nicht an Feiertagen. So musste Kelly immer wieder Ersatzstrips zeichnen und die Handlung so anlegen, dass sie auch in kürzerer Version noch Sinn machte. Kelly verstand es, trotz all dieser Beschränkungen eine Geschichte flüssig zu erzählen. Beweis dafür sind die zahlreichen Buchpublikationen, in denen die „Pogo“-Strips in den 50er und 60er Jahren erfolgreich nachgedruckt wurden. Comics in Zeitungen las man mit entsprechendem zeitlichen Abstand in „kleinen Portionen“. Die Spannungsbögen wiederholten sich täglich oder wöchentlich, was das lesen im Zusammenhang eher mühselig macht. Das gilt für fast alle Funny- als auch sämtliche Abenteuer-Strips. Walt Kellys „Pogo“ ist die einzige mir bekannte Ausnahme. „Pogo“-Bücher bieten reines Lesevergnügen und legen so Zeugnis ab für Kellys geniales Erzähltalent.

Pogo-Tagesstreifen vom 21. 8. 1969, Tusche auf Karton.
Pogo-Tagesstreifen vom 21. 8. 1969, Tusche auf Karton.

© Carsten Laqua, Pogo OGPI

Mit den Zwängen im Bereich angewandter Kunst meisterhaft umzugehen bedeutet natürlich noch nicht, dass man ein Kunstwerk schafft. Dazu bedarf es handwerklicher Qualität und eines eigenen Stils. Beides bietet „Pogo“ im Übermaß. Stilistisch wie inhaltlich ist „Pogo“ ein Funny Animal Strip mit starken Bezügen zur Realität. „Pogo“ ist eine intelligente Satire auf das Machtstreben und die Eitelkeiten der Menschen und manchmal, dann wenn Kelly sehr konkret wird, ist „Pogo“ Kellys Kommentar zum Selbstverständnis einzelner Gruppen, zur Politik, zum Umgang mit der Freiheit bis hin zu frühen (1970!) Einsichten in ökologische Notwendigkeiten. Dabei erweist sich Kelly als großartiger Karikaturist. Ihm gelangen mit wenigen Strichen treffsichere Charakterisierungen. So zeichnete Kelly im Disney-Stil letztlich Inhalte für Erwachsene. „Pogo“ beweist, das Funny Animals eine universelle Ausdrucksform sind. Kelly verwendete Tiere quasi als Platzhalter. Dieser Kunstgriff bewirkt, dass sich seine Leser unabhängig von einem konkreten menschlichen Erscheinungsbild mit den jeweiligen Charakteren identifizieren können. Im Gegensatz zu Carl Barks, der für sein Entenhausen realistische Hintergründe verwendete, um sprechende Enten glaubwürdig erscheinen zu lassen, löste Kelly seine Protagonisten ganz aus dem menschlichen Umfeld. Der exotisch anmutende Okefenokee Swamp dient als glaubwürdiger Rahmen für seine tierischen Helden. Kelly brauchte kein Entenhausen, denn es ist die Qualität der, in seinem Strip allgegenwärtigen Interaktion zwischen den Sumpfbewohnern, die diese so menschlich macht. Trotz der universellen Verständlichkeit seiner Zeichnungen arbeitete Kelly wesentlich facettenreicher als Hergé bei „Tim und Struppi“ mit seiner völlig überbewerteten Ligne Claire; seine Linien sind weit virtuoser als George Herrimans („Krazy Kat“) statisches Gekritzel und grafisch band sich Kelly nicht an einen einzigen Kunststil, wie es Winsor McCay lange vorher mit seinen Jugenstil-Tableaus in „Little Nemo“ getan hatte. Es gibt wohl keinen zweiten Comic, der inhaltlich, grafisch und zeichnerisch gleichermaßen stark ist, wie „Pogo“. Deshalb ist „Pogo“ sowohl der beste bisher geschaffene Comic als auch eine meisterhafte Satire und dabei zeichnerisch ausdrucksstark wie kaum ein zweites Werk.

Ein Abbild unserer Gesellschaft

Pogo-Sonntagsseite vom 24. 12. 1967, Tusche und Wasserfarben auf Karton.
Pogo-Sonntagsseite vom 24. 12. 1967, Tusche und Wasserfarben auf Karton.

© Carsten Laqua, Pogo OGPI

Inhaltlich weist „Pogo“ einige Besonderheiten auf, wie sie in anderen Comics selten und fast nie in dieser Qualität zu finden sind. So haben viele von Kellys zahlreich vorhandenen Protagonisten nicht nur ausgeprägte Charaktere, sondern auch einen eigenen, jeweils von ihrer Persönlichkeit abhängenden Humor. Somit erschließen sich Kellys Gags oft erst in Kenntnis der Figuren. Umso reizvoller ist es aber beim Lesen, sich ein solch vielschichtiges Universum erschließen zu können. Dabei spielte Kelly mit der Ausdruckform Comic. Wie in keinem anderen Strip ließ Kelly seine Crew als sich ihrer Rolle bewusster Figuren agieren. Pogo & Co. „wissen“, dass sie Teil eines Comicstrips sind. Manchmal lernen sie deshalb ihre Texte für die nächsten Folgen, warnen einander davor, zuviel zu quatschen, weil die größer werdenden Sprechblasen ihnen den Platz im Panel- und damit letztlich den Arbeitsplatz wegnehmen oder bewundern den Strich ihres Schöpfers. Dabei sind Kellys Anspielungen nie oberflächlich, sondern reflektieren seinen eigenen Umgang mit dem Medium Comic. So schuf Kelly etwas originäres, einen comic-spezifischen Humor, der nur in dieser Ausdrucksform stattfinden kann.

Über die Jahrzehnte zeichnete Kelly tausende von Dailies und Sundays. Deshalb findet sich im Okefenokee Swamp fast die gesamte Bandbreite menschlichen Handelns und Fühlens. Kelly schuf ein Abbild unserer Gesellschaft in all ihrer Tragik und Widersprüchlichkeit bis hin zu absurdem, das in seiner Komplexität und Tiefe weder von Robert Crumbs („Mr. Natural“, „Fritz the Cat“) bebilderter Welt der Psychosen, noch von Barks’ Entenuniversum erreicht wird. Kelly kam dabei zugute, dass er nicht, wie Barks, für Comic-Hefte, sondern für das überwiegend erwachsene Publikum von Zeitungen schrieb. Konkrete Politik und deren machtgierige Vertreter spielen vor allem in seinen Tagesstreifen eine große Rolle. Das aber geht für den heutigen Leser auf Kosten der Verständlichkeit, da sich die Brillanz Kellyscher Satire oft erst in Kenntnis des historischen Kontextes erschließt. Trotzdem enthalten Kellys Strips so viele scharfsinnige Beobachtungen menschlicher Schwächen und sozialkritische Ansätze, dass „Pogo“ auch ohne genaue Kenntnis der amerikanischen Innenpolitik jener Jahre heute noch ein intellektuelles Lesevergnügen bietet.

Pogo-Tagesstreifen vom 11. 7. 1970, Tusche auf Karton.
Pogo-Tagesstreifen vom 11. 7. 1970, Tusche auf Karton.

© Carsten Laqua, Pogo OGPI

In seiner Kritik an den Mächtigen scheint Kelly Lösungen für eine bessere Gesellschaft anzubieten: Anarchie, nicht als Allheilmittel, aber als Machtbegrenzender Faktor durchweht den Sumpf. Grotesk wirkt die Unfähigkeit derer, die herrschen wollen, sich denen gegenüber zu legitimieren, die sie schon zu beherrschen glauben. Zumindest im Okefenokee Swamp scheitern sie an der Absurdität ihres Vorhabens. Zu unterschiedlich ist ihre Zielgruppe: Fische, Insekten aller Art, Reptilien, Vögel, Nagetiere und andere Säuger leben jeweils nach eigenen Regeln. Dabei wissen Kellys Protagonisten wenig mit Autoritäten anzufangen. Schließlich sind sie sosehr damit beschäftigt, ihre eigenen Träume infrage zu stellen, dass sie keine Zeit finden, sich ernsthaft mit irgendwelchen Dogmen auseinanderzusetzen oder ihnen gar zu folgen. Walt Kelly scheint diesen Sumpf, in dem es von Individualisten wimmelt, zu lieben. Zwar lassen diese anarchischen Typen keine langen, stringenten Geschichten zu, dafür sind sie dank Kellys Genie, eine unerschöpfliche Quelle für jede Form von Nonsens und Satire. Hinter Kellys Werk stehen so letztlich weniger amerikanische, sondern wahrhaft universelle Ideale. Der französische Comic-Historiker Maurice Horn schrieb schon 1964 dazu:

Selbstporträt: Aus "We have Met the Enemy and He Is Us", 1972, Tusche auf Karton. 
Selbstporträt: Aus "We have Met the Enemy and He Is Us", 1972, Tusche auf Karton. 

© Carsten Laqua, Pogo OGPI

„Überdies beinhaltet das amerikanische Ideal vom Zusammenleben den Dienst am Staat, der Gemeinschaft. Bei Pogo hingegen basiert es auf allgemeinem Müßiggang . Arbeit stellt für Amerikaner einen positiven Wert dar. Für die Bewohner des Okefenokee ist Arbeit ein Übel, das es um jeden Preis zu vermeiden gilt. Die Pogosche Republik ähnelt einer Athener Demokratie mehr als einer amerikanischen. Wie in den antiken Städten ist im Okefenokee das Individum die Basis der Gesellschaft. Ohne Partner, faul und isoliert, entkommen Pogo und seine Kumpanen der dreifachen Tyrannei von Familie, Arbeit und Vaterland. So sind sie letztlich in der Lage, ihre Talente (oder ihre Untalentiertheit) für die Verbesserung ihrer Gemeinschaft einzusetzen. Deshalb sind es die Persönlichkeit der Figuren und deren psychologische Probleme, die die Handlung bei Pogo bestimmen.“

Solche Ideale haben Kelly letztlich nicht daran gehindert, mit „Pogo“ einen komplexen Comic geschaffen zu haben, der sowohl zeichnerisch als auch von den Geschichten her, und eben gerade auch in dieser Kombination, zu den bedeutenden Kunstwerken des 20. Jahrhunderts gehört. Zweifel an dieser Einordnung können jederzeit zerstreut werden, nämlich ganz einfach durch das Lesen von „Pogo“!

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