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Vom Insassen eines sibirischen Gulags zum Serienkiller-Jäger in New York City: Eine Szene aus „Little Tulip“.

© Splitter

Comic-Thriller „Little Tulip“: Unter die Haut

In ihrem drastischen Comic „Little Tulip“ erzählen Autor Jerome Charyn und Zeichner François Boucq die Lebensgeschichte eines Tattoo-Künstlers in Bildern voller Brutalität. Das Ergebnis ist schwächer als die Summe seiner Teile.

„Little Tulip“ beginnt mit Paul, der in den 1970er-Jahren ein kleines Tattoo-Studio in New York betreibt und nebenbei als brillanter Phantombildzeichner für die Polizei tätig ist. In Wahrheit heißt Paul jedoch Pawel, und die vielen Hautbilder auf seinem Körper, die er sich weitgehend selbst gestochen hat, sind nicht die einzigen Spuren, die das Leben an ihm hinterlassen hat. Denn Pawel lebte mit seinen amerikanischen Eltern einst in Moskau, und Ende der 40er-Jahre brachte man die Familie als politische Gefangene in einen sibirischen Gulag, wo Verbrecherbanden herrschten und Gewalt regierten.

Von seinen Eltern getrennt, lernt Pawel, mithilfe seines Zeichentalents im Strafgefangenenlager zu überleben, und wird schließlich von einem Zeichenschamanen als Tätowierer einer der kriminellen Gangs im Gulag ausgebildet. Auf Papier und Schweinehaut übt er, bis er ein echter Mozart der Nadeln ist und dem gefährlichsten Verbrecherkönig des gnadenlosen Lagers ein Bild auf die nackte Haut stechen darf. Doch auch im japanischen Tango – einem Messerzweikampf mit verbundenen Augen – bewährt sich Pawel, der von seinen wölfischen Kameraden Little Tulip („Kleine Tulpe“) getauft wird und ein entsprechendes Banden-Abzeichen bekommt.

Drastisch bis übersinnlich

Dreißig Jahre später hilft genau dieser ehemalige Messerkämpfer und Bandenkrieger der New Yorker Polizei in einem scheinbar völlig anderen Leben bei der Jagd auf Bad Santa, einen Serienvergewaltiger und -killer, der schon viel zu lange ungestraft sein Unwesen in der US-Metropole treibt. Doch nicht nur die Gewalt holt Pawel auf diesen Weg wieder ein, sondern auch seine Jugend im Gulag – auf gewisse Weise komplettiert sich so die Tätowierung seines Lebens, wird das Motiv endgültig abgeschlossen...

Jerome Charyn, der 1937 als Sohn osteuropäischer Migranten in Brooklyn geboren wurde und heute als freier Autor und Professor für Filmgeschichte zwischen New York, Paris und Brüssel pendelt, schrieb zahlreiche Bücher, aber eben auch einige viel beachtete Comic-Szenarien.

Ist der Stift stärker als das Messer? Eine Seite aus dem besprochenen Album.
Ist der Stift stärker als das Messer? Eine Seite aus dem besprochenen Album.

© Splitter

Seine beiden Handlungsstränge hat er routiniert abgefasst. Ohne jemals in die Nähe der emotionalen Qualität von Spiegelmans „Maus“ oder Kuberts „Yossel“ zu kommen, offeriert „Little Tulip“ zahlreiche drastische, heftige Szenen, in denen misshandelt, gekämpft, getötet und gerächt wird – in denen die Unmenschlichkeit der Gefangenen und der Aufseher des Gulags und des Killers in New York aufgezeigt wird.

Die Verknüpfung beider Perioden in Pawels Leben sowie das übersinnliche, genre-technisch geradezu fantastisch anmutende Ende sind dabei nicht unbedingt der passendste oder einfallsreichste Ausgang für die vorliegende Geschichte. Fast beschleicht einen als Leser der Verdacht, Charyn fehlte die richtige Idee, wie er aus der Sache herauskommen und sie zu Ende bringen sollte.

Im Dezember erscheint das erste gemeinsame Werk des Duos auf Deutsch

Den Zeichner François Boucq, der u. a. mit dem Max-und-Moritz-Preis und dem Grand Prix de la Ville d'Angoulême ausgezeichnet wurde, kennt man in erster Linie für „Die Pioniere des menschlichen Abenteuers“ und als Zeichner von Jodorowskys Serien „Mondgesicht“ und „Bouncer“. Seine Umsetzung von „Little Tulip“ ist typisch für die Schule, der er folgt, und recht gefällig. Die stimmigen Einstellungen und sicheren Seitenführung überzeugen ausnahmslos, ein paar Gesichter und Farbschemata hauen etwas daneben.

Vom Leben gezeichnet: Das Cover des besprochenen Albums.
Vom Leben gezeichnet: Das Cover des besprochenen Albums.

© Splitter

Vor allem wegen des merkwürdigen Schlenkers im Finale ist Charyns und Boucqs „Little Tulip“, das auf Deutsch als Hardcover-Album beim Bielefelder Splitter Verlag erschienen ist, am Ende schwächer als die Summe seiner Teile. Für sich genommen stehen beide Handlungsabschnitte eigentlich ziemlich gut da – erst in der Zusammenführung und durch die übersinnliche Wendung bricht die bis dahin allemal solide geschriebene und gezeichnete Story um dem Körperkünstler ganz schön ein. Bis dahin ist Pawels Geschichte zwischen den Mördern im Gulag und in Brooklyn absolut gefällige Kost für Freunde französischer Comics in diesem bewährten, traditionsreichen Stil.

Im Dezember folgt bei Splitter übrigens eine Neuauflage von „Die Frau des Magiers“, der ersten Zusammenarbeit von Boucq und Charyn, die dem Gespann 1986 in Angoulême den Preis für das beste Album einbrachte.

Jerome Charyn, François Boucq: Little Tulip, Hardcover, 88 Seiten, 19,80 Euro, Splitter

Weitere Tagesspiegel-Artikel unseres Autors Christian Endres finden Sie hier. Sein Blog findet sich hier: www.christianendres.de.

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