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Kontemplativ: Zwei Seiten aus dem besprochenen Buch.

© Peter Hammer Verlag

„Der Fluss“ von Alessandro Sanna: Im Fluss der Farben

Ganz ohne Worte: In fließenden Aquarellbildern erschafft der italienische Künstler Alessandro Sanna in seinem Bilder-Poem „Der Fluss“ das zarte Porträt einer Landschaft und des Lebens in ihr. 

Alessandro Sanna, 1975 geboren, ist in seiner Heimat Italien ein erfolgreicher Illustrator, der seinen federleichten Stil seit rund 20 Jahren vor allem als Kinderbuchillustrator entwickelte. Zu seinen Werken zählen die Zeichnungen zum Roman „Ein spätes Duell“ von David Grossman (1990), aber auch selbst geschriebene Bilderbücher wie „Das Orchester der schwarzen Katze“ von 1991 oder sein bislang erfolgreichstes Werks „Hai mai visto Mondrian?“ („Haben Sie Mondrian gesehen?“) von 2005, das vom niederländischen Künstler Piet Mondrian handelt. Viele seiner Bücher wurden ins Französische oder Englische übersetzt, hierzulande ist der Künstler noch zu entdecken.

Sein jüngstes, vollkommen ohne Worte auskommendes Buch „Der Fluss“ ist nun im Peter Hammer Verlag erschienen und dürfte Alessandro Sanna hier, aber auch international endgültig den Durchbruch verschaffen. Es ist ein ungewöhnliches Werk – ein Bilderbuch, jedoch kein klassisches Kinderbuch, schon eher eine Bilderzählung, aber auch kein Comic im üblichen Sinne. „Bilder-Poem“ könnte man es vielleicht nennen. Auch ist es Sannas persönlichstes Werk, da der in Mantua lebende Autor tief in der Region verwurzelt ist, die den Schauplatz für das Buch bildet: die Po-Ebene in Norditalien. Der Leser wird von der ersten Seite an verzaubert.

Zirkustiere verwandeln die Landschaft in einen Dschungel

„Der Fluss“ (Der Originaltitel lautet übersetzt etwa „Der langsame Fluss – Eine lange Reise über den Po“) ist ein in vier Kapitel unterteilter Jahreszeitenzyklus, angesiedelt an einem endlos langen, namenlosen Fluss, der unschwer als der norditalienische Fluss Po identifizierbar ist. Beginnend mit dem Herbst, erzählt Sanna vier Geschichten mit offener Struktur, die der Leser ein wenig entschlüsseln muss. Das erste Panel jedes Kapitels ist ein Stimmungsbild und füllt jeweils das ganze Blatt aus, danach sind auf fast jeder Seite vier gleich große Panels untereinander angeordnet, die eine „fließende“ Erzählung bilden.

Die Herbst-Episode handelt von einer Überschwemmung der gesamten Flussregion, derer die Menschen nur in gemeinsamer Anstrengung Herr werden können. Ein ruheloser Mann durchstreift - zunächst auf dem Fahrrad, später in einem Ruderboot - die überschwemmte Landschaft, um zu seiner Familie zu gelangen oder einen in eine Baumkrone geflüchteten Hund zu retten. Trotz der Bedrohung erscheint die Naturkatastrophe als ruhiges, kontemplatives Ereignis, ein primitives Boot wird zur Mini-Arche Noah. In der bedächtigen Winterepisode holt ein (anderer?) Ruderer seinen kleinen Sohn aus der Schule, damit dieser die wie ein Naturereignis gefeierte Geburt eines Kalbes miterlebt. Im Frühling erwacht das Leben und mit ihm die warmen Farben, was sich in bunten Festen der Menschen und in einer Hochzeit manifestiert. Die Geschichten sind nicht auserzählt, vieles bleibt der Phantasie und der Interpretation des Betrachters überlassen.

Bewegung ist ein wichtiges Motiv. Alessandro Sanna folgt aufmerksam dem über den Fluss gleitenden Boot, lässt wechselnde Landschaften vorüberschweifen, sieht dem Flug eines Vogels, dem Sprung eines Kaninchens zu, oder begleitet die Wanderung eines Menschen, der gegen den Wind ankämpft.

In vielen Details hat sich Sanna, der selbst in der Region aufgewachsen ist, von realen Begebenheiten inspirieren lassen, wie der großen Po-Überschwemmung von 1951, von der ihm Verwandte erzählten, die die Katastrophe selbst miterlebt hatten. Im Sommer-Kapitel verarbeitet Sanna ebenfalls vergessenen Ereignissen der Nachkriegszeit, als zahlreiche wilde Tiere aus einem Wanderzirkus ausbrachen und die Landschaft in einen Dschungel verwandelten. Ein namenloser Jäger, der zugleich Maler ist, bekommt die Gelegenheit, einen wilden Tiger zu porträtieren. Hinter dieser rätselhaften Figur verbirgt sich der naive Maler Antonio Igabue (1899-1965), der ein Außenseiterdasein führte und zeitweise wie ein Wilder am Fluss Po lebte.

Ohne Worte: Das Cover des besprochenen Buches.
Ohne Worte: Das Cover des besprochenen Buches.

© Peter Hammer Verlag

Von wenigen Momenten abgesehen, zeichnet Sanna Totalen, breite Panoramabilder mit winzig kleinen, aber sicher gezeichneten Silhouetten von Menschen, Tieren, Booten oder auch einem kleinen Auto, die jeweils das Auge des Lesers leiten und durch die norditalienische Landschaft führen. Entfernt erinnert sein Stil an den französischen Zeichner und Karikaturisten Jean-Jacques Sempé (u.a. „Der kleine Nick“), der ebenfalls bevorzugt einsame Figuren als winzige Mittelpunkte einer weiten Umgebung zeichnet, wie auch an dessen sanfte Poesie. Zugleich ist Alessandro Sanna viel malerischer, vager, verhaltener in seinem Humor. Sanna hat mehrere Jahre an diesem – dem Thema entsprechend ausschließlich in Aquarell gemalten - Buch gearbeitet, und dabei feinste Nuancen bei der Darstellung von Wasser, Landschaften, Lichtschattierungen und vom Wetter passend zu den jeweiligen Jahreszeiten geschaffen.

Obwohl das schöne, großformatige Buch im vornehmlich für Kinder ausgerichteten, verdienstvollen Peter Hammer Verlag erschienen ist, ist es für Leser beziehungsweise Betrachter jeden Altes ein echtes Geschenk. Ein poetisches Meisterwerk von hinreißender Leichtigkeit zwischen Comic und Buchkunst.

Alessandro Sanna: Der Fluss, Peter Hammer Verlag, 112 Seiten, 29,90 Euro, Leseprobe auf der Website des Verlages

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