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Glücklich auch ohne Sex. Wieso das so ist, ist einer der Fragen, auf die Bahners' Buch Antworten weiß.

© Disney/Egmont-Ehapa

Donald, Dagobert & Co.: Letzte Ausflucht Entenhausen

Donaldistische Soziologie: Patrick Bahners legt mit „Entenhausen. Die ganze Wahrheit“ eine geografisch, rechtsphilosophisch, ethnologisch und kulturhistorisch fundierte Arbeit zur Heimat der Ducks vor.

Entenhausen ist die vermeintlich berühmteste Stadt der Welt. Doch bei allem Wissen um ihre eigensinnigen Bewohner weiß man zugleich herzlich wenig: Wo genau liegt dieses Zentrum des altmodischen Kapitalismus? Warum altern seine Bewohner nicht? Welche physikalischen, moralischen und juristischen Gesetzmäßigkeiten gelten in dieser dorfähnlichen Metropole? Gibt es eine kulturhistorische Verankerung und, daraus folgend, eine gesellschaftliche Entwicklung? Warum haben die Bewohner Entenhausens keinen Sexualtrieb, wenn sie doch Liebe empfinden können? Und wieso gibt es zahlreiche Erinnerungs- und Gedenkzeremonien, aber keine Beerdigungen?

Mit Fragen wie diesen befasst sich Patrick Bahners interdisziplinäre Studie „Entenhausen. Die ganze Wahrheit“. Nicht zum Selbstzweck, sondern weil „der wissenschaftliche Donaldismus der Phantasie nicht freien Lauf lassen [darf]“. Seine „Forschungsreise“ in sieben Kapiteln ist ein weiterer Anlauf, Entenhausen nicht nur geografisch, sondern auch denklogisch und geistesgeschichtlich zu verorten.

Die donaldistische Grundannahme: Entenhausen existiert tatsächlich

Eine der zentralen Fragen, die es dabei zu beantworten gilt, ist die nach der Gültigkeit des irdischen Raum-Zeit-Gefüges. Kann man Entenhausen im Rahmen der Gesetze der Relativitätstheorie einen Ort zuweisen oder muss man dazu das Raum-Zeit-Kontinuum verlassen? Antworten können nur die Informationen geben, die Carl Barks als Übermittler der Entenhausen-Stories und Erika Fuchs als Übersetzerin ins Deutsche liefern. Bahners kennt diese Geschichte wie zahlreiche seiner Wissenschaftlerkollegen in- und auswendig, was zu dem facetten- und bilderreichen Lesevergnügen beiträgt, das man mit seinem Werk hat.

Grundvoraussetzung, dieses Vergnügen auch zu empfinden, ist die Annahme, dass Entenhausen auch tatsächlich existiert. Ohne diese Grundlage ist ein ernsthafter Donaldismus, also die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den von Carl Barks geschaffenen Untersuchungsgegenständen, nicht möglich. Darüber hinaus gilt es, zu akzeptieren, dass die Bewohner Entenhausens keine Tiere im zoologischen Sinne sind, sondern in der donaldistischen Taxonomie jeweils als höhere und niedere Art vorkommen. Dies erklärt auch, warum Donald Schweine halten oder Schafe hüten kann, obwohl er selbst als Ente daherkommt.

Übermittler und Übersetzerin: Carl Barks und Erika Fuchs auf einem Archivbild mit einer ihrer wichtigsten Figuren.
Übermittler und Übersetzerin: Carl Barks und Erika Fuchs auf einem Archivbild mit einer ihrer wichtigsten Figuren.

© Disney/Egmont-Ehapa

Die Sache mit der Relativität ist in Entenhausen, nun ja, relativ. Auf der einen Seite spricht einiges dafür, dass Entenhausen auf einer Kopie der Erde in einer etwas anderen interstellaren Konstellation verortet ist, auf der sich auf wundersame Weise die gleichen Ereignisse vollziehen, wie auf der Erde. Man müsste also den relativen Raum verlassen und in eine Parallelwelt eintauchen, um Entenhausen zu finden.

Gegen diese als Zwei-Welten-Leere in der Welt des Donaldismus bekannt gewordene Theorie spricht allerdings die Masse der Parallelen zwischen der irdischen und der entenhausischen Welt. Eine irdische Existenz Entenhausen ist liegt daher recht nahe. „Die drei Erhaltungsgesetze für Masse, Impuls und Energie, Varianten des Satzes «Ex nihilo nihil fit», halten auch in Entenhausen die Dinge zusammen“, stellt Bahners fest. Und das gilt selbst dann, wenn Daniel Düsentrieb einen Atom-Dezimator erfindet.

Bahners zufolge ist die Stadt nach einem atomaren Supergau entstanden

Wo also ist Entenhausen, wenn es auf der Erde liegt. Die zahlreichen Ortsangaben in den von Carls Barks überlieferten Geschichten deutend zieht Bahners die Kreise um seinen Untersuchungsgegenstand immer kleiner. Weil einiges dafür spricht, dass Entenhausen erstens in Amerika liegt, zweitens eine Hafenstadt ist, sich drittens kulturell an England ausrichtet und viertens im malischen Timbuktu nicht nur seinen Gegenentwurf, sondern auch seinen geografischen Bezugspunkt hat, kann man die Stadt recht genau finden. „Wer Entenhausen lokalisieren will, muss lediglich einen Kreis mit dem Radius von 6983 Kilometern um Timbuktu schlagen. Wo die Kreislinie die nordamerikanische Küste schneidet, liegt Entenhausen.“

Aus der Entenperspektive: Ein Luftbild der berühmten Stadt.
Aus der Entenperspektive: Ein Luftbild der berühmten Stadt.

© Disney/Egmont-Ehapa

Folgt man dieser Logik, liegt Entenhausen auf den Koordinaten, wo wir Boston finden. Ist die heimliche Hauptstadt Neuenglands also Entenhausen? Eher nicht, denn dann hieße Entenhausen auch einfach Boston, so wie Hongkong auch Hongkong und Hollywood auch Hollywood heißt. Folgt man Bahners, muss man die zweite Konstante der Relativitätstheorie durchbrechen, um Entenhausen an der Stelle von Boston denken zu können. „Entenhausen wurde nicht an einem Tag erbaut; es dauerte Jahrtausende, bis die Kulturhöhe unserer Zeit wieder erreicht war“, schreibt Bahners.

Bahners ist Verfechter der Zwei-Zeiten-Lehre, der zufolge Entenhausen nach dem atomaren Supergau entstanden ist. Was die Formulierung „bis die Kulturhöhe unserer Zeit wieder erreicht war“, erklärt. Dieser Ansatz würde nicht nur so manche Eigenart der Bewohner Entenhausens erklären – etwa ihre Immunität gegen die allgegenwärtige Strahlung – sondern auch zweierlei Rätsel lösen. Die Existenz Entenhausens nach der Jetztzeit würde zum einen die Frage nach der tiefen Verankerung unserer geisteswissenschaftlichen Kultur klären. Was einmal war, kann man schlecht ausradieren. Zum anderen würde der Supergau auch die seltsam vage Erdgeografie legitimieren, in der sich die Länder und Kontinente rund um Entenhausen in einer Art Urmeer auflösen und als „treibende Landmasse“ mal hier und mal dort auftauchen. In einer Welt, in der es selbst den Atomkern nicht mehr zusammengehalten hat, kann die Erde schon einmal auseinanderfallen und die bekannte Geografie auflösen?

Irgendwo muss der Goldene Esel versteckt sein

Einzig Amerika bleibt im weitesten Sinne so, wie wir es kennen, und ist damit die Konstante der Erzählungen Carl Barks. Dies gilt nicht nur im geografischen Sinn, wie Bahners zeigt, sondern auch im ideologischen. Entenhausen ist – nach einer kurzen Phase des Kaisertums – ein demokratisch-säkularer Stadtstaat mit einem zwei Kammern-System, in dem die Bewohner für ihr Glück selbst verantwortlich sind – was auch die zahlreichen Wettkämpfe erklärt. „Entenhausen ist eine agonale Stadt“, so Bahners, alles geschieht zur Wette.

Fundierte Studie: Das Cover des Bahners-Buches.
Fundierte Studie: Das Cover des Bahners-Buches.

© C.H.Beck

Das herrschende Wirtschaftssystem ist natürlich ein kapitalistisches, wenngleich mit einigen Besonderheiten. Da Dagobert Duck sein Geld hortet und nicht zurück in den Geldkreislauf fließen lässt – zum Glück, denn andernfalls drohte der Stadt eine Hyperinflation –, muss irgendwo der Goldene Esel versteckt sein. Dessen Stall konnte aber selbst Bahners nicht auf den zahlreichen kartografischen Grundlagen ausmachen, die ihm zur Verfügung standen.

Das Rechtssystem erinnert ebenfalls an amerikanische Verhältnisse. Grundsätzlich ist jede Klage denkbar. Allerdings scheint das Strafrecht nur für „Kapital“-Verbrechen im Wortsinn zu gelten. Einerseits haben die zahlreichen Prügeleien und Luftschüsse selten bis nie juristische Nachspiele, andererseits geraten die Panzerknacker für jeden noch so tölpelhaften Versuch, den Geldspeicher Dagobert Ducks zu knacken, hinter schwedische Gardinen.

Wo gestorben wird, braucht es keinen Nachwuchs

Die fehlende Sexualität in Entenhausen scheint wiederum nicht auf die Bezugsgröße Amerika zurückzuführen sein, wenngleich die dort herrschende puritanische Prüderie Anlass genug böte. Aber in einer Welt, in der nicht gestorben wird, braucht es keinen Nachwuchs, so dass die evolutionäre Funktion des Sexuellen wegfällt. Sexualität um der puren Lust Willen spielt in der Duck’schen Welt wiederum keinerlei Rolle, weil sich hier das Vergnügen aus dem Abenteuer und dem Wettkampf speist, nicht aus der Befriedigung animalischer Triebe.

Famos an Bahners' bahnbrechender Studie ist die geisteswissenschaftliche Einordnung der herrschenden Verhältnisse, wofür er sich bei den Klassikern des philosophisch-geistesgeschichtlichen Diskurses bedient. Ob Platon oder Sokrates, Vergil oder Erasmus, Rousseau oder Kant, Hegel oder Marx, Blumenberg, Jaspers oder Elias – ihre Schriften dienen ihm als Referenzen zur Funktionalität der Entenhausener Gesellschaft, die Bahners wie kein zweiter vor ihm entblättert.

Allein in seinem Schlusskapitel schießt er in Duck’schem Übermut über das Ziel hinaus. Dort sucht er händeringend nach einer religiösen Fundierung der untersuchten Stadtgesellschaft und schreibt vehement gegen einen vermeintlichen Siegeszug der „laizistischen Schockpädagogik“ an, um eine christlich fundierte Zivilreligion auszumachen. Dass er dabei jede andere religiöse Deutung nicht einmal erwägt, macht deutlich, dass es ihm hier nicht um die Klärung einer religiösen Fundierung, sondern um deren Kreation ging. Dies ist aber tatsächlich die einzige Schwachstelle in dieser ansonsten grandiosen stadt- und gesellschaftssoziologischen Studie.

Entenhausen ist in seiner Gesamtheit „ein gestuftes System von Fluchtorten und Fluchtarten“, schreibt Bahners, dessen „Fluchtkultur“ es möglich mache, dass neben der Welt-, Land- und Stadtflucht ganz selbstverständlich die Ausflucht existiert. Und das ist doch am Ende für alle am tröstlichsten.

Patrick Bahners: Entenhausen. Die ganze Wahrheit. Mit 115 Abbildungen, Verlag C. H. Beck, 207 Seiten, 19,95 Euro.

Weitere Tagesspiegel-Artikel unseres Autors Thomas Hummitzsch finden Sie hier. Zu seiner Website "Intellectures" geht es hier.

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