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Sex und Gewalt: Eine Seite aus dem besprochenen Band.

© Avant

Episoden-Comic: Im Niemandsland

In Bildern eingefroren: Der vielversprechende Auftakt der Trilogie „Der König der Fliegen“ erzählt von jugendlicher Desorientierung und beginnendem Wahnsinn. Die Erzählung hat das Zeug zum Meilenstein.

Der Himmel ist ein einziges Mal wirklich blau. Der leitende Angestellte in einer Firma für Kanalisationssysteme erwacht auf dem Rasen vor seinem Haus und kann sich nicht mehr daran erinnern, dass er gestern den neuen Freund seiner Tochter grundlos zusammengeschlagen hat. Der Blick in den Himmel und das Vergessen geben ihm das Gefühl, dass in seinem Leben alles nur an ihm läge. Dann schrauben sich die Köpfe seiner Frau und seines schizophrenen Alter Egos in sein Blickfeld und die Episode ist zu Ende. Danach erscheint der Himmel nur noch trüb verhangen und bleiern schwer.

„Der König der Fliegen“ vereint zehn Episoden, die unterschiedliche Protagonisten aus ihrer Perspektive erzählen. Die Figuren leben in einer Suburbia irgendwo im Osten Frankreichs, wo sich ihre Wege ständig kreuzen. Die zersplitterten Episoden verdichten sich zu einer Erzählung, ohne dass wir den Eindruck bekommen würden, dass eine gemeinsame Geschichte die Figuren vereint. Ihre inneren Monologe erdrücken die wenigen Dialogfetzen zwischen ihnen. Stilistisch lehnt sich Mezzo an Charles Burns „Black Hole“ an wie Pirus inhaltlich. Die aufzehrende Sexualität (nicht nur) während der Adoleszenz zieht sich als Leitmotiv durch die verschiedenen Erzählungen. Im Gegensatz zu „Black Hole“ sind die Erwachsenen in dieser Welt der jugendlichen Desorientierung präsent. Allerdings sind sie ebenso verloren, nur einen Schritt weiter auf dem Weg zum Wahnsinn.

Der amerikanische Einfluss auf die Welt in „Der König der Fliegen“ ist enorm: Die aufgesprengte Narration erinnert an „Ice Haven“ von Daniel Clowes, die fremd leuchtende Kleinstadt an die Filmbilder von David Lynch, in der drogengesättigten Langeweile vereinzelter Irrlichter klingt Brett Easton Ellis‘ „Unter Null“ an, selbst der Titel des 70er-Pornoklassikers „Behind the Green Door“ kommt als Referenz vor. Obwohl das Geschehen sich unweit der deutsch-französischen Grenze abspielen muss, wird es von den Emblemen der amerikanischen Kultur dominiert. Die Mall, das Diner oder das Bowlingcenter mit seinem speziellen Dresscode entwurzeln die Figuren schon allein örtlich. Hier sind wirklich alle in Simulacren Jean Baudrillards gefangen, trügerischen Scheinbildern: medialen Schablonen, die zu ihrer Wirklichkeit geworden sind. Wer jung ist, kleidet sich auch, als ob er dem Hipsterkatalog entsprungen wäre.

Das Gleichmaß der Entwurzelung

Wälder und Berge schließen dieses abgeschlossene Universum ein, so dass es kein Entrinnen gibt: ein grelleres „Twin Peaks“. Die Farben sehen aus, als wenn sie versuchen würden, vor ihrem Verblassen noch einmal zu leuchten. Die Geschichte setzt im Oktober ein, der noch so sommerhaft ist, dass die Fliegen überlebt haben. An Halloween verkleidet sich Éric als König der Fliegen, indem er sich einen überdimensionalen Fliegenkopf aus Pappmaché überzieht. Er prangt auf einem Sessel im Garten seiner Mutter wie auf einem Thron. In seinem Reich zerfallen die Beziehungen so abrupt wie sie begonnen haben, das Familienleben wird durch geschlossene Türen geregelt, Zusammentreffen sind entweder sexuell oder gewalttätig.

Dieses trübe Gleichmaß drückt sich auch allein in der Panelsyntax aus: Als Grundgerüst dienen drei mal drei Bilder, die Mezzo horizontal oder vertikal ausweitet, wenn sie sonst platzen würden. Jedes einzelne Bild scheint eingefroren zu sein, jede Bewegung auf eine Pose hinzulaufen. Gerade diese sich vordrängenden Details, die keinen Halt im sie umgebenden Raum finden, drängen uns die Frage auf: Gibt es ein Geheimnis hinter allem, das diese auseinanderstrebende Welt noch zusammenhält? Für Éric fügen sich zum Schluss die Teile ineinander, zu denen sein permanenter Trip seine Erlebnisse zerstoben hat. Das letzte Bild zeigt eine abgetrennte Hand, die einen Revolver hält. Diese Parallele zu Lynchs „Blue Velvet“, wo es ein abgeschnittenes Ohr war, vereinigt in entgegengesetzter Richtung zum Film die Erzählstränge der Einzelepisoden.

Mag sich anfangs alles wie eine postmoderne Bastelstunde ausnehmen, Mezzo und Pirus verdichten ihre Bilder so, dass wir hoffen können, mehr als eine atmosphärische Geheimniskrämerei zu sehen. Die vielversprechende Vorschau auf den zweiten Band verrät, dass die Erzählung einen größeren Kreis ziehen wird, während Motive aus dem ersten als sinntragende Elemente wiederkehren. „Der König der Fliegen“ hat das Zeug dazu, als Comicreihe ein Meilenstein zu werden. Bevor nicht der letzte Teil erschienen ist, könnte sich das Ganze aber auch als bildgewaltige Dunstwolke entpuppen. Bis dahin ist allerdings allein das Warten aufregend genug.

Mezzo & Pirus (Pascal Mesemberg und Michel Pirus): Der König der Fliegen, Avant, 64 Seiten, 19,95 Euro, mehr unter diesem Link.

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