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Schattenwelt: Eine Szene aus dem Buch.

© Illustration: Brown/D&Q

Graphic Novel: Auf Freiersfüßen

Der Comicautor Chester Brown hat sein Leben mit Prostituierten als Graphic Novel aufgearbeitet – sensibel, schonungslos und provokant. "Paying For It" zeigt, welches Potenzial der autobiographische Comic noch hat.

Beim ersten Mal fühlt er sich wie verwandelt: "Eine Last, die ich seit meiner Pubertät mit mir herumschleppte, war verschwunden." Kurz zuvor war der Autor bei "Carla" gewesen, einer Prostituierten – und der ersten Frau, mit der er sich beim Sex ganz natürlich fühlte, wie er schreibt.

"Paying For It" heißt das neue Buch des Kanadiers Chestern Brown, der mit Titeln wie der auch auf Deutsch erschienenen Erzählung "Fuck" ("I Never Liked You") in den späten 90er Jahren zu den Pionieren der neuen Welle autobiographischer Comics gehörte, die auch deutsche Zeichner wie Mawil oder Arne Bellstorf beeinflusst hat.

Mit seinem neuen 280-Seiten-Werk, das dieser Tage in die nordamerikanischen Buchläden kommt, zeigt sich der inzwischen 50-jährige Brown erneut als kompromissloser Meister des Genres. Und er weiß zu provozieren: So kontrovers wie dieses Buch wurde schon lange kein Comic mehr in den nordamerikanischen Medien besprochen, beim Toronto Comic Arts Festival in der vergangenen Woche war "Paying For It" das mit Abstand meistdiskutierte Werk.

Wieviel Trinkgeld gibt man eigentlich?

Das liegt auch an dem Mut, ein so allgemeingültiges wie tabuisiertes Thema wie die Inanspruchnahme von Prostitution als autobiografische Erzählung zu behandeln. Zwar ist das in Browns Heimatland Kanada heikler als in Deutschland, da dort käuflicher Sex teilweise illegal ist. Aber diese rechtlichen – und zumindest in Nordamerika hochpolitischen – Fragen sind nur eine der vielen Ebenen von "Paying For It". Im Zentrum stehen die manchmal irritierenden und traurigen, oft aber einfach sachlich-funktionalen und zumindest für Chester Brown beglückenden Beziehungen zu den Frauen, die er aufzusuchen begann, als er nach dem Ende seiner letzten monogamen Zweierbeziehung beschloss, künftig nur noch auf Freiersfüßen zu wandeln.

Charakterkopf: Chester Brown stellte sein Buch kürzlich auf dem Toronto Comic Arts Festival vor.
Charakterkopf: Chester Brown stellte sein Buch kürzlich auf dem Toronto Comic Arts Festival vor.

© Lars von Törne

Brown präsentiert sich in klaren, reduzierten Linien und in sachlichem Erzählton als stoischer Charakter, der nach mehreren misslungenen festen Beziehungen zu Frauen nicht mehr an die Idee der romantischen Liebe glaubt. Sein Problem: Das Verlangen, keine feste Freundin mehr zu haben, ist ebenso stark wie das Verlangen nach Sex. Also beginnt er, erst zögerlich und voller ambivalenter Gefühle, später dann immer selbstverständlicher, Prostituierte aufzusuchen.

Dabei lässt er den Leser an den Gedanken teilhaben, die ihm durch den Kopf gehen – angefangen von der Frage, wie viel Trinkgeld man wohl geben sollte, bis hin zu den von Frau zu Frau variierenden Überlegungen, was während des Geschlechtsverkehrs wohl im Kopf der anderen Person vorgehen mag. Das ist schonungslos offen und zugleich sensibel geschildert. Die Frauen sind dabei – laut Brown auch zu ihrem eigenen Schutz – anonymisiert gezeichnet und tragen falsche Namen, lassen aber durch die Dialoge unterschiedliche Persönlichkeiten erkennen. Dennoch ist klar: In diesem Buch geht es weniger um die Prostituierten – dies ist ein faszinierender Ausflug in die Gefühls- und Gedankenwelt des Freiers, dem die Frauen letztendlich lediglich als Projektionsfläche seiner sexuellen Wünsche dienen.

Korrektiv: Chester Brown im Gespräch mit seinen Freunden.
Korrektiv: Chester Brown im Gespräch mit seinen Freunden.

© Illustration: Brown/D&Q

Das mag und wird bei vielen Lesern Widerspruch provozieren. Wie er in seiner Schilderung die Frauen auf wenige körperliche Attribute reduziert, wie er ihre Vorzüge oder Nachteile mit anderen Freiern auf den einschlägigen Websites diskutiert – das kann man mit gutem Grund abstoßend finden. Der Grad an Intimität, die Brown seinem Publikum zumutet, dürfte manchen schockieren, seine kühl vorgetragenen Ansichten über die Prostitution muss man keineswegs teilen – aber unberührt lässt das Werk einen nicht, denn es wirft grundlegende Fragen über den oft funktionalen Charakter menschlicher Beziehungen auf, die viele Leser auch noch lange nach der Lektüre beschäftigen dürften. 

„Aus dem Schatten der Scham treten”

Als Korrektiv der Brown'schen Gedanken und Wahrnehmungen fungieren Gespräche mit seinen Ex-Freundinnen und vor allem den Künstlerfreunden Seth und Joe Matt, die beide den nordamerikanischen Autorencomic ebenfalls sehr bereichert haben. Jeder hinterfragt auf seine Weise das Handeln des geschätzten Freundes Chester – teils aus moralischen Motiven, teils aus schierem Unverständnis und teils aus dem Glauben an die Überlegenheit der romantisch begründeten Zweierbeziehung gegenüber dem käuflichen Sex.

Tagebuch der Lust: Brown hat über Jahre jeden Besuch bei einer Prostituierten festgehalten.
Tagebuch der Lust: Brown hat über Jahre jeden Besuch bei einer Prostituierten festgehalten.

© Illustration: Brown/D&Q

Mit verblüffender Ehrlichkeit und in sachlichem Ton bringt Chester Brown Licht in eine Schattenwelt, die nennenswerten Teilen der männlichen Bevölkerung nicht unbekannt ist – über die aber kaum jemand in der ersten Person auf so selbstverständliche Weise sprechen würde wie dieser Autor, der bereits in früheren Jahren mit Erzählungen wie "The Playboy" (über seine jugendliche Faszination für die gleichnamige Zeitschrift) gezeigt hat, dass auch die frustrierenden Seiten der sexuellen Selbsterfahrung adoleszenter Männer großartiger Comicstoff sein können – wenn sie denn mit der nötigen  Reflektionsfähigkeit und einer gehörigen Prise Selbstironie vermittelt werden.

Wie um sich zusätzlich abzusichern, hat er seinem Buch mehrere Zitate von Expertinnen hinzugefügt, die sich analytisch mit der Prostitution beschäftigen und die seine Darstellung begrüßen. So leitet die ehemalige Prostituierte Veronica Monet, die sich inzwischen als Autorin und Aktivistin für die Rechte von Prostituierten einsetzt, das Buch mit dem Wunsch ein, "dass andere Freier aus dem Schatten der Scham treten und sich so engagiert wie Chester für unsere Rechte einsetzen".

Dass es auch gänzlich andere Sichtweisen auf das angeblich älteste Gewerbe der Welt gibt, macht Brown besonders am Schluss des Buches deutlich: Gut 50 Seiten lang sind die illustrierten Fußnoten, in denen er kritische Sichtweisen der Prostitution diskutiert und sich mit Einwänden und Vorurteilen auseinandersetzt. Ein aufklärerisches, anrührendes, intimes, kontroverses und erzählerisch packendes Buch, das man nach den ersten Seiten nicht mehr aus der Hand legen mag.

Chester Brown: „Paying For It“, Drawn and Quarterly, 280 Seiten, Vorwort von Robert Crumb, ca. 15-17 Euro (online u.a. bei Amazon erhältlich, außerdem in gut sortierten Comicläden)

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