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Auf der Spur der weißen Linie: Eine Seite aus dem Buch.

© Edition 52

Graphic Novel: Auf großer Fahrt

Rauschhaft, assoziativ, surreal: Calle Claus’ Graphic Novel „White Line“ erzählt von einer mysteriösen Odyssee, die Freunden von Funny- und Furry-Comics gefallen dürfte.

Calle Claus erweist anderen Kunstwerken gerne Reverenz, so auch in „White Line“: Der Nachtclub Rectum, aus dem Claus‘ namenloser junger Held nach Differenzen mit der Liebsten des Nachts herauskatapultiert wird, heißt wie das Etablissement in Gaspar Noés Film „Irreversible“ (2002). Die Mauern jenes Klubs zieren Plakate der deutschen Indie-Band Locas in Love, welche ihrerseits nach einer Geschichte aus den „Love & Rockets“-Comics der Gebrüder Hernandez benannt ist. Des Weiteren erinnert sich die Hauptfigur beim Betrachten von Fotos zu Beginn der Geschichte eines zurückliegenden Picknicks am Valentinstag; ein Verweis auf den gleichnamigen Roman von Joan Lindsay aus dem Jahr 1967 und die ebenso betitelte Verfilmung von 1975 durch Peter Weir. So wie in Buch und Film der ungeklärte Verbleib einiger Personen im Mittelpunkt steht, handelt auch „White Line“ vom abrupten Bruch mit dem Gewöhnlichen.

Und wo ein Film wie „Irreversible“ über die schmerzhafte Unumkehrbarkeit von Ereignissen meditiert, transformiert Claus diese zu einem Kreislauf, darin dem Erzählmuster von Blexbolex‘ surrealem Pulp-Thriller „Niemandsland“ (2012) nicht gänzlich unverwandt.

Nach dem Rauswurf aus dem Klub, dessen Lightshow dem Geschehen auf der Tanzfläche einen zusätzlichen visuellen Reiz verlieh, dargestellt anhand gekonnt platzierter weißer Punkte innerhalb von Claus‘ durchgängiger Schwarz-Grau-Ästhetik, verschlägt es die frustrierte Hauptfigur in die Hafengegend. Die Mitfahrgelegenheit in einem Boot, angeboten von einer geheimnisvoll verhüllten Dame, vermag er nicht auszuschlagen - woran die vor dem Clubbesuch gegenüber seiner Freundin gemachten und abschlägig beschiedenen sexuellen Offerten ihren Anteil haben mögen.

Antropomorphe Romanze: Eine Szene aus dem Buch.
Antropomorphe Romanze: Eine Szene aus dem Buch.

© Edition 52

Wie beim Kollegen Blexbolex folgen nun als weitere Handlungsorte die Schauplätze zahlloser Abenteuergeschichten, beispielsweise Schiff oder Insel, bei dem Wahlhamburger Claus noch um das genreübliche Inventar bestehend aus Masken, geheimnisvollen Kisten oder auch mysteriöse Rituale und Geheimbünde erweitert. Claus‘ Protagonist folgt während seiner Odyssee allerdings stets ominösen weißen Linien, welche später aufgrund vorhandener maritimer Umgebung zu einem Schiff, getauft auf den Namen ‚White Line‘, mutieren.

So sind die im Stil der Funny-Comics festgehaltenen Erlebnisse folgerichtig von rauschaffiner Natur, mitunter gar blutig, und kommen in der Mehrheit ohne größere Textmengen daher. Der Rezipient wird durch den wortarmen Bilderfluss zum Komplizen des staunenden Blicks eines laufend in unverhoffte Situationen hineinstolpernden Handlungsträgers. Neben den sich überstürzenden Ereignissen trägt diese Abwicklung des Plots zur rasanten Beschleunigung der Lesegeschwindigkeit bei, bis man, inzwischen in ruhigerem Fahrwasser angekommen, Zeuge einer für den Mann unbefriedigenden Romanze anthropomorpher Natur wird. Liebhaber des Furry-Genres dürften daran ihre helle Freude haben.

Kreislauf des Lebens: Das Buchcover.
Kreislauf des Lebens: Das Buchcover.

© Edition 52

Der Schluss jedoch wirkt zu sehr konstruiert. Er lässt den jungen Mann wieder dort auftauchen, wo die Geschichte ursprünglich begonnen hat. Ein Prinzip, das auch von Blexbolex in „Niemandsland“ verfolgt und welches von diesem mit dem Durchbrechen von Glas als Symbol der Trennung von der gegenwärtigen Realität markiert wurde. Bei Claus jedoch zerbricht kein Glas, das Aquarium als zugestandenes Refugium innerhalb der strapazierten Mann/Frau-Beziehung bleibt unversehrt und hermetisch, das herbeigesehnte Abenteuer findet nur in wilden Tagträumereien mittels Unterstützung rauscherzeugender Substanzen statt. Der namenlose Jedermann dürfte die Wunschvorstellungen vieler Männer bedienen, die sich aus dem Beziehungstrott in eine exotischere Umgebung hinwegträumen. Zwar ironisiert Calle Claus hier deren Fantasien und nutzt anstatt vieler Worte den sequentiellen Fluss als Motor der Erzählung – der Beitrag für die pornografische Anthologie „Bettgeschichten“ aus dem vergangenen Jahr, in dem Claus einer Frau via lüsterner Pilze die Sporen gab, war dabei aber um einiges origineller und schlüssiger auf den G-Punkt gebracht.

Calle Claus: White Line, Edition 52, 141 Seiten, 18 Euro

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