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Das andere Ich. Immer wieder begegnet Asterios in Gedanken seinem toten Zwillingsbruder.

© Illustration: David Mazzucchelli

Graphic Novel: Der Fluch des toten Zwillingsbruders

Die Erzählung "Asterios Polyp" wurde in den USA mit Lob und Preisen überhäuft. Jetzt gibt es David Mazzucchellis Graphic Novel auch auf Deutsch.

Eine Wohnung steht in Flammen, ihr Bewohner rettet sich auf die Straße. Ohne sich umzudrehen, geht er durch den Regen davon, steigt in den nächsten Greyhound-Bus und fährt davon, so weit ihn sein letztes Geld bringt. So dramatisch und rätselhaft beginnt "Asterios Polyp", die durch jubelnde Kritiken und wichtige Comic-Auszeichnungen geadelte Graphic Novel von David Mazzucchelli, deren deutsche Ausgabe jetzt bei Eichborn erschienen ist.

Im vergangenen Herbst wurde das Buch mit gleich drei Harvey-Awards geehrt, davor mit drei Eisner Awards, die Kritiker der US-Zeitungen überboten einander mit Lobeshymnen (eine Auswahl gibt es hier).

Die Lektüre des viel gepriesenen Werkes hinterlässt jedoch einen ambivalenten Eindruck. Einerseits ist die von Mazzucchelli auf 340 Seiten ausgeführte Lebensgeschichte des genialen, aber egozentrischen und zu bedeutungsvollen menschlichen Beziehungen nur begrenzt fähigen Architekturprofessors Asterios Polyp ein konzeptionell und formal großartiges Stück Comic-Kunst, meisterhaft ausgeführt bis hin zum Lettering der Sprechblasen, dem der Zeichner für jede Figur eine andere Form gegeben hat.

Andererseits fehlt dem elegant zwischen konkreten und abstrakten Zeichenstilen wechselnden Werk etwas, das gute Comicliteratur ebenso ausmacht wie ein begnadeter Zeichenstil: Es mangelt ihm an Herz und Seele. Das ist umso paradoxer, als "Asterios Polyp" viel von menschlichen Beziehungen und Gefühlen erzählt. Aber Mazzucchelli tut dies bis auf wenige Ausnahmen auf eine eigenartig gefühllose, kalte Art, bei der die Struktur fast durchgehend wichtiger als der Inhalt erscheint.

Konzept-Comic. Die Beziehung zwischen Asterios und seiner Frau ist auch ohne Worte zu verstehen.
Konzept-Comic. Die Beziehung zwischen Asterios und seiner Frau ist auch ohne Worte zu verstehen.

© Illustration: David Mazzucchelli

Gefühle? Fehlanzeige

So gesehen ähnelt das Buch seiner Hauptfigur: Asterios Polyp, dessen Wohnung in Manhattan an seinem 50. Geburtstag durch einen Blitzschlag in Flammen aufgeht und der danach dank zufälliger neuer Bekanntschaften nach und nach ein neues Leben in einer Ersatzfamilie aufbaut, ist außergewöhnlich intelligent und kann die Welt um sich herum konzeptionell erfassen und bewerten wie kein zweiter. Wenn es um Zwischentöne und komplexe menschliche Beziehungen geht, ist er jedoch unfähig, seine eigene, überhebliche Position zu verlassen und sich auf andere Menschen und deren Weltsicht einzulassen.

Dennoch findet er, wie der Leser im Rückblick auf die Jahre vor dem Feuer erfährt, in der Künstlerin Hana eine Frau, mit der er zumindest eine Zeit lang das Leben teilt. Allerdings basiert ihre Beziehung fast komplett darauf, dass ihr Minderwertigkeitskomplex und sein fast unerschütterliches Überlegenheitsgefühl einander benötigen. Als sie anfängt, eigene Schritte zu gehen und sich zu emanzipieren, bricht das Gefüge langsam auseinander.

Das schildert Mazzucchelli, der bislang vor allem für seine Comic-Umsetzung von Paul Austers "Stadt aus Glas" (zusammen mit Paul Karasik) gepriesen wurde (mehr dazu hier), durch eine Kombination von Rückblenden vor dem Feuer und Episoden, die Polyps Weg nach dem verheerenden Brand in seinem Apartment gegenüber stellen. Optisch ist das ein Fest für anspruchsvolle Comicleser. Mazzucchelli findet großartige Bilder, um komplexe psychologische und philosophische Fragen zu behandeln.

So begleitet eine anfangs nur durch Striche angedeutete und später konkreter werdende Figur Asterios Polyp durch sein Leben nach dem Feuer - Sinnbild für den toten Zwillingsbruder, der vor 50 Jahren bei der Geburt starb, später als Erinnerung in Asterios' Kopf ein Eigenleben entwickelt, ihn als Schuldgefühle implizierender Doppelgänger begleitet und zu unheimlichen Handlungen animiert.

Auch die Beziehung der Hauptfigur zu Hana, seiner vorübergehenden Ehefrau, setzt Mazzucchelli in meisterhaften Bildfolgen um, in denen der Zeichenstil sich je nach der Beziehungsdynamik ändert. Je mehr sich die Partner voneinander entfremden, desto mehr erscheint der Systematiker Asterios als schematisch-leblose Architekturzeichnung, während seine eher emotional agierende aber unsichere Frau als flüchtige Bleistiftskizze daherkommt. Das ist optisch beeindruckend, aber einen wirklichen Zugang zu den handelnden Figuren und ihren Motiven erlaubt Mazzucchelli dem Leser hinter all den schematischen Bildern kaum. Gefühle? Fehlanzeige.

Männer sind blau, Frauen rot

Stattdessen breitet der Autor die Gedankenwelt und die emotionale Unzugänglichkeit seiner Hauptfigur, die sich erst gegen Ende hin durch den Einfluss neuer Freunde langsam ändert, in großartig komponierten Seiten aus, die oftmals wie nach einem Comic-Lehrbuch des Comic-Theoretikers Scott McCloud gezeichnet wirken. So wird die dichotome, an klaren Strukturen orientierte Weltsicht von Asterios Polyp durch Bilder vermittelt, die ebenso strukturell reduziert aussehen: Männer sind blau, Frauen rot; Gedankengebäude in Diskursen über Religion oder Philosophie werden als tatsächliche Gebäude oder als vermenschlichte Götter gezeigt; philosophische Ausflüge zu Fragen wie dem Einfluss der eigenen Wahrnehmung auf die Welt um uns herum werden in Symbolbildern umgesetzt, die leider oft eher an Lehrbücher oder Bedienungsanleitungen erinnern, statt den Leser wirklich zu packen.

Optisch ist das originell, manchmal spielerisch-ironisch und stellenweise visuell schlicht berauschend - trotzdem lassen einen Mazzucchellis Figuren dank seiner distanzierten Erzählweise bis zum Schluss kalt. Das ist umso trauriger, als gegen Ende des Buches Asterios' Leben erneut eine unerwartete Wendung nimmt und er sich doch noch zu seinen Emotionen zu bekennen scheint. Aber das nimmt man als Leser dann nur noch als interessantes intellektuelles Experiment wahr. Für Gefühle ist man an dem Punkt bereits ebenso immun wie die Hauptfigur in all den Kapiteln zuvor.

David Mazzuchelli: Asterios Polyp, übersetzt von Thomas Pletzinger, durchgehend zehnfarbig, Halbleinen, 344 Seiten, Eichborn, 29,95 Euro.

Hinweis: Diese Rezension ist eine aktualisierte Fassung unserer Besprechung der Originalausgabe des Buches aus dem vergangenen Herbst. Mehr zu "Asterios Polyp" gibt es auch auf der nächsten gedruckten Comicseite im Tagesspiegel in einigen Wochen.

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