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Virtuos: Eine Szene aus dem besprochenen Buch.

© Schreiber & Leser

Graphic Novel: Die geheimnisvolle Stadt Brüsel

Gegen den Größenwahn: Die neu aufgelegte Science-Fiction-Erzählung von Schuiten und Peeters spielt in einer Parallelversion der europäischen Hauptstadt und ist eine kritische Abrechnung mit dem modernen Städtebau.

Seit den 80er Jahren entwerfen die Comicarchitekten François Schuiten & Benôit Peeters die „Geheimnisvollen Städte“, Comics (man könnte sagen Graphic Novels) über Orte in einer Art Paralleluniversum. Vor kurzem ist bei Schreiber & Leser eine Neuedition des erstmals 1992 veröffentlichten Bandes „Brüsel“ erschienen - das ist kein Tippfehler, sondern das Pendant zur europäischen Hauptstadt Brüssel.

Es ist keine besonders sympathische Welt, die Schuiten und Peeters da entwerfen, und die phantastischen Bücher gehören nicht gerade in die Kategorie der Wohlfühlfantasie. Seltsame, mitunter surreale Dinge gehen dort vor. In „Brüsel“ geht es um die Stadt im Wandel des Fortschritts. Die Hauptfigur Constantin Abeels ist ein Florist, der statt echten Pflanzen - ganz im Sinne der modernen Zeiten - künftig nur noch Plastikblumen verkaufen möchte. Das kommt in einigen Kreisen gut an, und so lernt Abeels unter anderem wichtige Personen aus Politik und der Baubranche kennen und führt den Leser in die Kreise der Planer ein, die gerade dabei sind, die Stadt radikal zu verändern. Doch es gibt auch Widerstand im Untergrund gegen die Pläne der Politik und Wirtschaft. Der bildgewaltige Comic erzählt von architektonischem und städtebaulichem Größenwahn, von Urbanität und Kulturverdrängung, von der mitunter zerstörerischen Kraft von manchmal gut gemeinten aber rücksichtslosen Ideen.

Das reale Brüssel hat kaum weniger skurrile Auswüchse hervorgebracht

Dabei ist dieses Buch kein Sachbuch, kein Infotainment. Schuiten und Peeters, die offenkundig Freunde des Jugendstils sind, und der nüchternen Zweckform der Moderne nicht viel abgewinnen können, verarbeiten dies in einer phantastischen Geschichte. Eine seltsam anmutende Welt wird entworfen. Es gibt dort einerseits die historische Stadt Brüsel in kleinteiliger Struktur mit Winkelgassen, Bau- und Kleidungsstile, Fortbewegungs- und Kommunikationstechnik werden asynchron und mit phantastischen Elementen miteinander vermischt, so wie man es aus dem Steampunk-Genre kennt. Als Leser fühlt man sich hier nicht immer gut. Trotzdem fesselt die Geschichte von Anfang an. Das mag auch an den virtuosen Zeichnungen Schuitens liegen, die unglaublich präzise und detailfreudig gestaltet sind und wie aus einer anderen Zeit wirken.

Geheimnisvolle Stadt: Das Titelbild des Buches.
Geheimnisvolle Stadt: Das Titelbild des Buches.

© Schreiber & Leser

„Brüsel“ ist ein Trip in die Vergangenheit, eine Science Fiction, die während des Wandels der Kunst und Kultur zur Moderne entstanden sein könnte, und die wahre Geschichte der realen Stadt Brüssel vorweg nimmt. Das Buch und die Zeichnungen sind von einer seltenen Aura umgeben, die man sonst nur beim Stöbern in sehr alten Büchern spürt. Durchbrochen sind die altmodisch gezeichneten Kapitel von ganzeitigen Illustrationen, die im Stil von Propaganda- oder Werbeplakaten gezeichnet sind. Da gibt es auch für grafisch interessierte Leser viel zu entdecken. Druck und Verarbeitung des Bandes sind sehr gut gelungen.

Dem Band Brüsel vorangestellt ist ein längeres Vorwort, das man unbedingt vorab lesen sollte, vor allem wenn man keine großen Kenntnisse der Stadtentwicklung Brüssels hat. Hier erfährt man einiges Interessantes und lernt einige reale Personen kennen, die man später auch in der Parallelwelt wieder trifft. Interessant ist vor allem, dass der reale Städtebau der Stadt Brüssel nicht weniger skurrile Auswüchse hervorgebracht hat, als das fiktive Pendant im Paralleluniversum der „Geheimnisvollen Städte“.

Schuiten und Peeters: Brüsel, Schreiber & Leser, 126 Seiten, 26,80 Euro, Leseprobe hier.

Unser Gastautor Frank Wochatz ist Geschäftsführer des auf anspruchsvolle grafische Literatur spezialisierten Comic-FachgeschäftsComics und Graphics, Prenzlauer Allee 46 (Berlin-Prenzlauer Berg). Die Website lautet www.bluetoons.de, außerdem gibt es hier auch einen sehr lesenswerten Comic-Blog.

Frank Wochatz

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