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Selbstfindung: Eine Szene mit der Hauptfigur in jungen Jahren.

© Reprodukt

Graphic Novel: Eine Reise zum Ich

Psychogramm, Familiengeschichte, Liebeserklärung an die Heimat: Mit dem preisgekrönten Comic „Portugal“ erscheint das Opus Magnum des französisch-portugiesischen Autors Cyril Pedrosa jetzt auf Deutsch.

Die Krise hat von Simon Muchat Besitz ergriffen. Dem franco-portugiesischen Comiczeichner sind Inspiration und Schaffenskraft irgendwo auf der Wegstrecke seines Lebens verloren gegangen, einzig einige Werbeaufträge halten ihn über Wasser. Auch seine Beziehung hängt am seidenen Faden, den Muchat aufgrund der Lethargie, die sich seiner bemächtigt hat, nicht zu greifen in der Lage ist. Wäre er nicht noch so jung, würde man eine Midlifecrisis vermuten.

Muchat’s Krise ist der Ausgangspunkt von Cyril Pedrosas neuem Comic „Portugal“, für den er auf Europas größtem Comicfestial in Angoulême in diesem Jahr mit dem Preis der französischen Buchhandelskette FNAC ausgezeichnet wurde.

Nicht wenig von Simon Muchat und der Geschichte, die „Portugal“ erzählt, erinnert an den Autor selbst. Cyril Pedrosas Großvater floh in den Wirren des Zweiten Weltkriegs gemeinsam mit seinem Bruder von Portugal nach Frankreich. Warum er in Frankreich blieb, während andere zurückgingen, war lange Zeit ein Geheimnis. Als Pedrosa darauf stieß, war seine Neugier geweckt; und das Thema des vorliegenden Comics gefunden. Darin hat er die eigene Suche nach der Geschichte seiner Familie verarbeitet. Er hat bei seinen Besuchen in Portugal die Faszination der aus Kindertagen vertrauten und doch unbekannten Sprache selbst erlebt, kennt die manisch-verrückte Suche nach den eigenen familiären Wurzeln.

Und doch ist dieser Comic weit mehr als die gezeichnete Aufarbeitung einer Familienbiografie. „Portugal“ ist das Psychogramm von Simon Muchat, die Geschichte einer zerstreuten und auch irgendwie verrückten Familie und europäisches Geschichtsbuch zugleich. Und vor allem eine tiefschürfende Liebeserklärung an ein Lebensgefühl, das sich nur mit Begriffen wie „Heimat“ oder „Zuhause“ verbinden lässt.

Babylonische Sprachverwirrung

Seinen Ausdruck findet dieses gezeichnete Bekenntnis an ein Land und seine Menschen in vielfältiger Weise. Die Charaktere, die Pedrosa in seinem Werk auftreten lässt, tragen eine tiefe Ruhe und Gelassenheit in sich, die sich mit einer Ehrfurcht vor dem eigenen Leben, das sie mit soviel Lebendigkeit wie möglich zu füllen versuchen, paart. So manches Mal fehlt es diesen in die Jahre gekommenen Kindern an Vernunft, aber niemals an Lebensmut, Humor und Optimismus. Sie alle kennen Entbehrungen, Enttäuschungen und Niederlagen, haben aber nie vergessen, trotz allem das Leben zu genießen. Das Glas Wein in der milden Nachmittagssonne, die nackten Füße im kühlen Dorfteich, der Grashalm im Mundwinkel; das sind die Dinge, die ihr Leben ausmachen und die man als Leser noch während der Lektüre teilen möchte.

Geister und Menschen: Eine Seite aus dem Buch.
Geister und Menschen: Eine Seite aus dem Buch.

© Reprodukt

Liebevoll sind auch die Anekdoten der sprachlichen Verwirrung, die Simon Muchat immer wieder erleidet und die ihn schließlich dazu bringt, die Sprache seiner Vorväter lernen zu wollen. Der Comic lebt im französischen Original von dieser babylonischen Sprachverwirrung, die sich aus der Nähe von Französisch und Portugiesisch einerseits und der sprachlichen Unkenntnis des Simon Muchat andererseits ergibt. In der Originalausgabe müssen die portugiesischen Dialoge nicht übertragen werden, weil das ungefähre Verständnis ihrer Inhalte vorausgesetzt werden kann. Auch in der deutschen Übersetzung sind die portugiesischen Passagen weitestgehend im Original belassen worden. Den Portugiesen, die in der Originalausgabe mit Akzent Französisch sprechen, werden in der Übersetzung die typischen romanischen Fehler untergeschoben – weil es im Deutschen keine typisch portugiesischen Aussprachefehler gibt, die jeder Leser erkennt. Also griff man zum französischen Akzent, den man in deutschen Texten problemlos wiedergeben kann, etwa durch Probleme mit den deutschen Lauten, dem Weglassen des H’s am Wortanfang oder falscher Silbenbetonung. So bleibt zwar der Eindruck der Verständigungsschwierigkeiten von Simon Muchat in Portugal erhalten, der Akzent ist aber leider verschoben.

Mit viel Liebe zum Detail hat Pedrosa seine Zeichnungen ausgeführt. Manche seiner Landschaftsimpressionen erinnern stark an sein Vorgängerwerk „Drei Schatten“, einige Personen- und Charakterstudien lassen an Manu Larcenets Figuren in „Die Rückkehr aufs Land“ denken und wenige Szenen rufen die Atmosphäre von Bastian Vives „Der Geschmack von Chlor“ auf den Plan.

Durchschimmernder Konturen, selten gesehene Bilder

Trotz dieser Parallelen ist es Pedrosa gelungen, einen eigenen Stil zu entwickeln. Die Wasserfarben, in die Pedrosa seine Geschichte getaucht hat, strahlen Wärme und Geborgenheit aus; der darunter liegende weiche, manchmal etwas disneyhafte Strich der Konturen verstärkt das Gefühl der Sanftmut, das dieser Comic in seiner Gesamtheit ausstrahlt. Dabei gewinnen mal die Farbgebung, mal der Text und mal die Seitengestaltung die Hoheit über die Comicseite. „Portugal“ ist in diesem Sinne ein Augenschmaus.

In der Krise: Simon Muchat, das gezeichnete Alter Ego des Autors.
In der Krise: Simon Muchat, das gezeichnete Alter Ego des Autors.

© Reprodukt

Die Kolorierung mit den bis zur Transparenz verdünnten Wasserfarben schafft darüber hinaus einen Effekt durchschimmernder Konturen, der selten gesehene Bilder hervorbringt, in denen Bewegungen oder die Schnelllebigkeit des Alltags durch die Transparenz betont wird. Die Vergänglichkeit der Zeit ist selten zeichnerisch derart genial umgesetzt worden. Wie Geister laufen durchsichtige Menschen durch Pedrosas erinnerte Szenerien, als sei das Abgebildete eine über die Echtzeit gelegte, längst verblasste Erinnerung.

Die Erinnerung ist das zentrale und zugleich das am wenigsten greifbare Element dieses Comics, an dem Pedrosa fünf Jahre lang gearbeitet hat. Auf der Suche nach der Geschichte seiner Familie muss Simon Muchat feststellen, dass er weder seinen eigenen, vagen Gedankenblitzen noch den lückenhaften Erinnerungen seiner Familie trauen kann. Nicht einmal in dem portugiesischen Heimatdorf seiner Vorfahren kann er das Rätsel der Auswanderung seiner Familie lösen; zu viele Fragen bleiben offen, zu viele Rätsel verschlüsselt.

Am Ende sind sich die Geschichte der Familie Muchat und die faszinierenden Zeichnungen Pedrosas sehr ähnlich. Es gibt nur einige Konturen, die allein noch keinen Sinn ergeben. Um diese Konturen, sowohl zeichnerisch als auch familienbiografisch, mit Leben zu füllen, braucht es die transparente Kolorierung, die sich wie eine Imagination über die Linien legt und Geschichten entstehen lässt. Das Resultat ist mehr, als die Summe der einzelnen Teile.

Vielschichtig: Das Covermotiv des Buches.
Vielschichtig: Das Covermotiv des Buches.

© Reprodukt

Mit seiner bewegenden und schrecklich ausweglosen Allegorie auf den Abschied und die Trauer, dem 2008 erschienen Comic „Drei Schatten“, hatte Pedrosa viele Lesende nicht nur angerührt, sondern auch in eine Traurigkeit versetzt, die nur schwer abzustreifen war. „Portugal“ – zweifelsohne sein vorläufiges Opus Magnum – ist zwar von einer ähnlichen Melancholie geprägt, endet jedoch versöhnlicher; in der leisen Hoffnung, dass Simon Muchat, der sensible Held dieser Geschichte, zu sich selbst gefunden hat.

Cyril Pedrosa: Portugal. Aus dem Französischen von Annette von der Weppen, Handlettering von Andreas Michalke, Reprodukt, 264 Seiten, 39,- Euro.

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