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Früh übt sich: Die Goebbels-Kinder spielen "Spontane Aktion" - eine Szene aus Ulli Lusts "Flughunde"-Adaption.

© Lust/Suhrkamp

Graphic Novel: Flüstern und Schreien

Nach der international gefeierten Graphic Novel „Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Leben“ hat Ulli Lust jetzt Marcel Beyers in der NS-Zeit spielenden Roman „Flughunde“ als Comic adaptiert.

Es ist die Lautmalerei des Grauens: „Roooaarrr“, „Ratatatata“ und „Wam“ machen die Weltkriegsbomber, wenn sie ihre tödliche Fracht über Berlin abladen. „Arrrr Rooooo Aorrrr“ klingt das letzte Röcheln eines Häftlings unter dem Skalpell der KZ-Ärzte. Wenn die Wehrmachtssoldaten an der Front ihr Leben aushauchen, steigen leere oder mit kleinen Punkten gefüllte Sprechblasen empor. Und wenn ein Scharführer am Mikrofon aufbrausend seinem Führer nacheifert, dann sind auf dem Papier nur noch dunkle Zacken zu sehen, die den Klang des braunen Rauschens erahnen lassen. In ihrer Adaption von Marcel Beyers Roman „Flughunde“ breitet die Comiczeichnerin Ulli Lust ein reiches lautmalerisches Panoptikum aus, das das Repertoire dieser an Schallworten und Symbolen reichen Kunstform ausschöpft und zugleich auf beeindruckende Weise bereichert.

Freundlich, bestialisch

Lusts kongeniale Adaption, die an diesem Montag in den Handel kommt, erweist der literarischen Vorlage - in der der Schall von großer Bedeutung ist - alle Ehre und hebt sie zugleich auf eine neue Stufe. Einerseits vertraut die Bilderzählerin fest auf die Stärken des Romans, der 1995 erschien und von der Kritik wegen seiner ungewöhnlichen Perspektive und sprachlichen Brillanz gefeiert wurde. So gibt sie den Worten Beyers viel Raum und übernimmt streckenweise ganze Absätze von ihm. Zugleich findet Lust aber ihre ganz eigenen Bilder und Formen, um Beyers kunstvoll montierte Parallel-Erzählung neu zu strukturieren und visuell eigenständig umzusetzen.

„Flughunde“ erzählt vom Alltag und Niedergang des Nationalsozialismus zwischen 1940 und 1945 im steten Wechsel zweier radikal subjektiver, auf unterschiedliche Weise eingeschränkter Perspektiven. Aus deren Kombination ergibt sich ein überraschend klarer, neuer Blick auf dieses Kapitel der Geschichte, über das man eigentlich nicht viel Neues mehr zu lesen erwartete. Zum einen ist da die zu Anfang achtjährige Tochter Helga von Joseph Goebbels, die als Stimme der Unschuld im Zentrum des Bösen fungiert und das Geschehen um sich herum mit im Laufe der Jahre reifendem Blick wahrnimmt. Ihr Gegenpart ist der (von realen Figuren inspirierte) Akustik-Ingenieur Hermann Karnau, der der Familie des Reichspropagandaministers nahe steht und sich vom Skeptiker der NS-Ideologie zu einem eifrigen Mitwirkenden entwickelt. Ein stiller, freundlicher Mann, der vor bestialischen Menschenversuchen nicht zurückschreckt, mit denen er seine abstrusen Stimm-Theorien belegen will.

Von der menschlichen Stimme besessen

Im Roman wie im Comic kommt den Geräuschen eine besondere Bedeutung zu. Denn der Toningenieur, der eigentlich mit den Menschen nicht viel anfangen kann, ist nicht nur dafür zuständig, dass Goebbels’ Rhetorik bei öffentlichen Auftritten möglichst eindrucksvoll zur Geltung kommt. Er ist darüber hinaus von der menschlichen Stimme so besessen, dass er alles daran setzt, deren Klang auf Tonträger zu bannen und ihr ihre letzten Geheimnisse zu entlocken: Erst durch harmloses Schnippeln an Tierkadavern, später durch qualvolle, tödliche endende Experimente mit KZ-Häftlingen.

Schnitt, Gegenschnitt: Szenen von brutalen Menschenversuchen werden mit der Sportpalastrede kombiniert.
Schnitt, Gegenschnitt: Szenen von brutalen Menschenversuchen werden mit der Sportpalastrede kombiniert.

© Lust/Suhrkamp

Wie Ulli Lust diese in ihrer Paarung von Normalität und Brutalität erschütternde Erzählung mit dezent kolorierten Zeichnungen umsetzt, das ist grandios. Mit ihren auf das Wesentliche reduzierten, teilweise karikierenden Bildern vermittelt sie einen unmittelbareren Zugang zu den den Roman tragenden menschlichen Dramen als Beyer, der mit seiner kunstvollen aber distanziert wirkenden Sprache vieles nur andeutet und Informationen oft nur bruchstückhaft vermittelt. Das macht sich besonders bemerkbar in Szenen, in denen im Comic das Grauen hinter der vermeintlichen Normalität des NS-Alltages noch schneller deutlich wird als im Roman. So bei einer schon im Roman besonders bewegenden aber im Comic noch intensiveren Parallelmontage der Schilderung von Goebbels Totaler-Krieg-Rede im Februar 1943 im Berliner Sportpalast aus Sicht seiner kleinen Tochter und eines mörderischen Eingriffs, den Karnau zeitgleich am Stimmband eines KZ-Häftlings ausführt. Während hier die menschliche Stimme die Massen zur absoluten Hingabe aufpeitscht, wird dort im Namen der selben Ideologie der Mensch erst seiner Stimme und dann seines Leben beraubt.

Schichtnougat im Führerbunker

Zusätzlich zu den unterschiedlichen Erzählstilen, die Beyer für seine beiden Hauptfiguren gefunden hat, kontrastiert Lust die Weltsicht des Mannes und des Mädchens durch einen naiver und einen sachlicher wirkenden Zeichenstil und ein entsprechendes Lettering. An manchen Stellen verlässt die Zeichnerin ihren halbrealistischen Stil und verfällt experimentierfreudig ins Abstrakte oder überdreht Karikierende, wenn es der Dramaturgie dient. So verwandeln sich die wohlerzogenen Goebbels-Kinder auch visuell in kleine Monster wenn sie daheim „Spontane Aktion“ spielen und die Erniedrigung der Juden imitieren, indem die kleineren Geschwister unter dem Kommando der größeren den Teppich mit Zahnbürsten putzen müssen. Und der Kriegswahnsinn wird in jenen Szenen besonders eindrucksvoll inszeniert, in denen die Klanggewitter der Bomben sich zu abstrakten Lautmalereien und Linienmustern verdichten, die alles andere überlagern. Neben dem Grauen gib es auch immer wieder Momente makabren Humors. So wenn es im „Führerbunker“, wo einige der stärksten und besonders klaustrophobischen Szenen der Geschichte spielen, als endgültiges Zeichen für den Untergang des „Dritten Reiches“ gewertet wird, wenn der geistig schon halb weggetretene Adolf Hitler letztendlich auch noch die Lust auf Schichtnougat verliert, was Ulli Lust mit einer absurden Nahaufnahme seines Mundes illustriert, dem der finale Stimmungswandel direkt anzusehen ist.

Zackig: Eine Szene beschreibt die Übung für eine NS-Propagandaveranstaltung.
Zackig: Eine Szene beschreibt die Übung für eine NS-Propagandaveranstaltung.

© Lust/Suhrkamp

Im Unterschied zum Roman vermittelt Lust dem Leser das Gefühl einer stärkeren Nähe vor allem zu der männlichen Hauptfigur. Bei Beyer bleibt der gefühllos wirkende Hermann Karnau trotz der intensiven Schilderung seiner Gedanken und Beobachtungen merkwürdig ungreifbar („Ich bin ein Mensch, über den es nichts zu berichten gibt“). Im Comic hingegen erscheint er stärker als ein emotionales Wesen, das auch mal echte Empfindungen zu zeigen scheint, so wenn er von den Umständen des Todes der Goebbels-Kinder im „Führerbunker“ erfährt, die ihm wider Erwarten ans Herz gewachsen waren. Diese stärker sichtbare Emotionalität ist teilweise dem Umstand geschuldet, dass eine Bilderzählung es erfordert, Figuren regelmäßiger zu zeigen und daher immer wieder neu zu definieren, als das bei einem literarischen Text der Fall ist. Aber es lässt sich hier wie auch in einigen hinzugefügten Szenen Lusts Intention erkennen, sich und dem Leser die Figuren auf ihre eigene Weise zu erschließen.

Nur Mut, Suhrkamp!

„Flughunde“ ist – als Roman wie jetzt auch als Comic – eine gleichermaßen beeindruckende wie erschütternde Lektüre. Auch, weil die gewählte Erzählperspektive beim Lesen widersprüchliche und verwirrende Reaktionen provoziert, denn vor allem gegen Ende des Buches fällt es dem Leser schwer, kein Mitgefühl für die Figuren zu empfinden, die doch zugleich im Zentrum des NS-Terrorregimes standen.

Im Bunker: Das Titelmotiv des Buches.
Im Bunker: Das Titelmotiv des Buches.

© Suhrkamp/Lust

Ein weiteres Mal zeigt Ulli Lust, zu welcher Intensität und Komplexität der Comic in den richtigen Händen fähig ist. Das hatte sie vor knapp vier Jahren mit ihrer Graphic Novel „Heute ist der letzte Tag vom Rest Deines Lebens“ bereits eindrucksvoll vorgeführt, indem sie eine Alptraum-Reise, die sie einst als junge Frau erlebt hatte, in eine der kraftvollsten und besten Comic-Erzählungen der Gegenwart verwandelte. Dieser Tage erscheint das Werk nach großen Erfolgen in Frankreich auch in den USA und Kanada, Anfang Mai präsentiert sie es auf dem Toronto Comic Arts Festival – mehr dazu demnächst auf diesen Seiten. Und der traditionsreiche Suhrkamp-Verlag hat mit der nunmehr dritten Comic-Adaption eines literarischen Werkes aus seinem Hause ausreichend dargelegt, dass diese Kunstform auch in sein Programm passt. Jetzt müsste man dort nur noch den Mut finden, mal eine originäre Graphic Novel zu veröffentlichen, die nicht nur eine zeichnerische Aneignung eines bereits existierenden Romans ist, sondern erzählerisch und künstlerisch Neuland betritt. Dass allerdings auch eine Adaption große Kunst sein kann, davon zeugt Ulli Lusts neues Buch.

Ulli Lust: Flughunde, Suhrkamp, herausgegeben von Andreas Platthaus, 364 Seiten, 24,99 Euro. Ulli Lusts Website findet sich hier.

Ulli Lust präsentiert ihr Buch am Sonntag, dem 2. Juni, um 13 Uhr bei einer Lesung auf dem Comicfestival München - mehr dazu hier.

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