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Pulp-Hommage: Eine Szene aus dem Buch.

© Schreiber & Leser

Graphic Novel: Im Rausch der Gewalt

Abgedrehte Alternativwelten, fröhliche Folterorgien: Bryan Talbots Steampunk-Thriller „Grandville“ ist rasant inszeniert, hinterlässt aber einen zwiespältigen Eindruck - daran ändert auch Tims Struppi im Opiumrausch nicht viel.

Bryan Talbot ist in Deutschland vornehmlich durch seine zeichnerischen Beiträge zur „Sandman“-Serie von Neil Gaiman sowie das von ihm selbst verfasste und mehrfach preisgekrönte Drama „Die Geschichte von einer bösen Ratte“ bekannt, in dem er sich mit dem Thema Kindesmissbrauch befasste. Darüber hinaus illustrierte Talbot Teile des Regelwerks und andere Begleitbücher für das deutsche Fantasy-Rollenspiel „Das schwarze Auge“. Nur wenigen dürfte seine Zusammenarbeit mit der deutschen Comic-Institution Matthias Schultheiss bekannt sein, dessen „Brainworms“-Skript er zu Beginn der 1990er Jahre zeichnerisch gestaltete.

Talbot gilt nicht nur als ein als einflussreicher und renommierter britischer Comickünstler, auf einschlägigen Web-Seiten wird er gern als „Godfather“ der modernen britischen Underground-Comix oder des Steampunk tituliert. Letzteres dürfte auf seinen im Jahr 1978 erstmals veröffentlichten Comic „The Adventures of Luther Arkwright“ zurückzuführen sein, der auch als eine der ersten britischen Graphic Novels gilt. Bryan Talbot selbst bevorzugt dafür allerdings den Begriff Comic.

Das Steampunk-Genre entwickelte sich in den vergangenen Jahren innerhalb der phantastischen Literatur zu einer ernsthaften Konkurrenz für Fantasy der Marke Schwert und/oder Magie. Ebenfalls mit retrofuturistischen Inhalten wie beispielsweise dampfbetriebenen Robotern etc. befasst sich Talbots nach einem französischen Zeichner-Pseudonym betitelter anthropomorpher Thriller „Grandville“. Der Lebenslauf des Künstlers Grandville, der eigentlich Jean Ignace Isidore Gérard (1803-1847) hieß, war von politischen Umwälzungen wie der Julirevolution (1830) in seinem Geburtsland geprägt. In seinen Werken ließ Grandville mit Vorliebe Synthesen aus Mensch, Flora und Fauna entstehen.

Als Napoleon bei Waterloo siegte

Sowohl revolutionäre Bestrebungen wider bestehende politische Herrschaftsverhältnisse als auch die Symbiose aus Mensch und Tier finden sich in Talbots Comic wieder. In einem Szenario, in dem Napoleon die Schlacht bei Waterloo siegreich beendete, ist die sozialistische Republik Britannia nur eine unbedeutende Größe neben dem französischen Imperium. Somit fällt „Grandville“ ebenso in die Alternativwelten-Kategorie, die oft mit Elementen des Steampunk einhergeht, und unweigerlich kommt einem Keith Roberts „Pavane“ (1968) in den Sinn. In diesem SF-Klassiker hat England nach der „folgenschweren Ermordung von Elisabeth I.“, so der Untertitel der deutschen Übersetzung, ebenfalls nicht viel zu lachen.

Tierisch menschlich: Eine weitere Seite aus dem Buch.
Tierisch menschlich: Eine weitere Seite aus dem Buch.

© Schreiber & Leser

Talbots Pulp-Hommage, in der ein englisches Gespann aus Dachs und Ratte, nämlich Detective Inspector LeBrock nebst Assistent Roderick Ratzi, einen Todesfall untersucht und dabei auf eine Verschwörung von internationalen Ausmaßen stößt, weist mitunter menschliche Protagonisten auf. Diese werden als ‚Teignasen‘ oder ‚haarlose Schimpansen‘ bezeichnet. Ihr gesellschaftlicher Status entspricht dem der Humanoiden aus dem beliebten Science Fiction-Franchise „Planet der Affen“. Und wenn Sie sich jetzt fragen, warum hier laufend Beispiele aus dem Fundus der Trivial- und sonstiger Kultur bemüht werden: „Grandville“ dekliniert das Referenzwesen wirklich durch und durch. Angefangen mit dem gesellschaftskritisch zu wertenden Hinweis für comicgeschichtsbewusste Connaisseure auf Bécassine,  welche in dem Pariser Hotel, das den Detektiven als Unterkunft dient, beschäftigt wird, bis hin zu dem leichter identifizierbaren Spirou. Jener ist ebenfalls vorwiegend im Gaststättengewerbe anzutreffen und betätigt sich während der Ermittlungen auch als Informant für die britischen Ermittler.

Die rigide Referentialität erreicht ihren Höhepunkt, wenn der bezüglich der Tathintergründe im Fall zu vernehmende Hund Tintins, Snowy Milou (Tims Struppi), als Opiate konsumierender Abhängiger – sichtlich gezeichnet von der Reise zum Mond, den Ereignissen im Blauen Lotos (Opium!) und noch mindesten drei anderen über den Dialog zitierten Abenteuern – dargestellt wird. Diese Sequenz trifft durch ihre Kolorierung in Sepiafarben einen Ton wehmütiger Erinnerung, der wunderbar mit dem im Leser vorhandenen Erinnerungen an die Lektüre vergangener Jahre interagiert - so er denn jemals Hergés Comics gelesen hat.

Offen bleiben muss allerdings vorerst, ob sich da etwa zusätzlich eine Anspielung auf den Roboter Archie aus den britischen „Vulcan“-Comics (hierzulande in den 1970er Jahren in „Kobra“ veröffentlicht) in der Geschichte verbirgt.

Foltermethoden wie bei „24“

Auf jeden Fall gibt es obendrein ein Plakat von Katzendame Omaha, das, neben einem von Alfons Mucha inspirierten Jugendstil-Plakat hängend, nicht nur auf deren Auftritt im Folies Bergère, wo LeBrock seinen Love-Interest kennenlernen wird, verweist. Zitiert wird hier die Comicserie von Kate Worley und Reed Waller. Das passt, wurden im antropomorph besetzten „Omaha, the Cat Dancer“ (1981) die Grenzen zwischen Tanz, Erotik, Furry-Fandom sowie Furry-Porn vermessen.

Neben dem in „Grandville“ eher mehr im puritanischen verweilenden Sexgebaren, das lediglich eine verhaltene aber sehr gelungene Bettszene beinhaltet, gibt es dafür umso mehr Gewalt. Diese wird zum erzählerischen Selbstzweck und nicht charaktermotiviert eingesetzt. Die Foltermethoden erinnern nicht zuletzt durch das Sujet Terrorismus geradezu zwingend an Agent Jack Bauer aus der TV-Serie „24“. Da man hier nicht etwa einer Garth Ennis-Studie über virulente Gewalt à la Punisher-MAX beiwohnt, fragt man sich schon bald: Wozu eigentlich jetzt genau?

Auch der fortwährende Politpop, mit Verweisen auf Ausbeutung, die Politik manipulierende Schwerindustrielle und Terroristen will nicht so recht überzeugen. Sinnbildlich, wenn auch ausnahmsweise unfreiwillig, mag dafür das am Computer anthropomorphisch aufgepeppte und irgendwie unpassend wirkende Delacroix-Bild der Marianne stehen, das die bereits erwähnte Julirevolution abbildet.

Blut und Liebreiz: Das "Grandville"-Cover.
Blut und Liebreiz: Das "Grandville"-Cover.

© Schreiber & Leser

Und so verhält es sich mit der gesamten Bildgestaltung: Die einführende Sequenz, eine wortlose Verfolgungsjagd, ist mitreißend und im beliebten Breitwandstil von Popcorn-Kino und -Comic gestaltet, vergeigt es dann aber letztlich durch Weichzeichnereffekte aus dem Computer, die gar nicht mal so gut aussehen. Die Panels in den Seitenarrangements sind sehr konventionell angelegt, dienen dabei aber gekonnt dem temporeichen Ablauf. Leider werden hier immer wieder in einzelnen Bildern Teppichmuster oder Gemälde mit dem Computer eingefügt, dass es den Puristen graust. Die ansonsten eher großflächig arbeitende Darstellungsweise verliert sich nicht weiter in allzu speziellen Details und kann ansonsten unter Berücksichtigung der benannten Mängel als gelungen bezeichnet werden.

Insgesamt wirkt „Grandville“ also, obwohl rasant inszeniert, etwas zwiespältig. Denn nicht alle Anspielungen in Talbots All-Inclusive-Hommage erscheinen so gelungen wie die Darstellung von Tintins Hund Milou als Opiumkonsument. Die unreflektierten Gewaltdarstellungen und der Einsatz computergenerierter Effekte sind dem Lesegenuss langfristig doch arg abträglich. Was bleibt? Ein schöner Einband und ein paar gelungenere Momente in einer routiniert abgespulten Erzählung, die mehr Plot aus Versatzstücken denn aussagehaltige Geschichte ist, so wie es Talbots „Die Geschichte einer bösen Ratte“ war.

Bryan Talbot: Grandville, Schreiber & Leser, 104 Seiten, 24,80 Euro. Leseproben und Trailer hier.

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