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Nicht für jeden nachvollziehbar: Worte und Bilder ergeben bei Craig Thompsons „Habibi“ eine künstlerische Einheit.

© Reprodukt

Graphic Novel: Tausendundeine Pracht

Selten wurde ein Comic mit so viel Spannung erwartet wie Craig Thompsons „Habibi“. Ist das märchenhafte Epos ein so großer Wurf wie erhofft? Oder bleibt der gefeierte US-Autor hinter den Erwartungen zurück. Zwei Tagesspiegel-Kritiker sind unterschiedlicher Meinung.

Nach seiner viel gelobten Graphic Novel „Blankets“ veröffentlicht Craig Thompson jetzt zeitgleich in den USA und Deutschland den Nachfolger „Habibi“. Lutz Göllner, Redakteur des Berliner Stadtmagazins zitty und Tagesspiegel-Autor, hätte sich von dem Buch mehr erhofft, wie er in seiner Kurzkritik deutlich macht, die sich auch in der aktuellen zitty findet. Thomas Hummitzsch hingegen, Autor der Tagesspiegel-Comicseiten, ist von Craig Thompsons Epos durchweg begeistert.

Orientalische Nacht
Von Thomas Hummitzsch

Wohl jeder hat von den Märchen aus Tausendundeiner Nacht schon gehört. Auch wer nicht darin gelesen hat, hat doch eine Vorstellung davon, wovon sie erzählen und vor allem, wie sie erzählen. Sie entführen uns in ferne Welten und orientalische Königshäuser, rufen Bilder von prunkvollen Palästen und fruchtbaren Oasen wach, lassen an menschliche Schicksale und gesellschaftliche Katastrophen denken und lösen Erinnerungen an die Mythen und Sagen des Orients aus. Die Märchen aus Tausendundeiner Nacht hat sich der Amerikaner Craig Thompson für sein monumentales Werk „Habibi“ zum Vorbild genommen.

Thompson ist vor allem für seinen vielfach preisgekrönten Comic „Blankets“ bekannt, in dem er von den Entsagungen aufgrund seiner christlich geprägten Jugend im Mittleren Westen Amerikas erzählt. Danach war es still geworden um den Zeichner aus Portland. Sechs Jahre lang hat er sich ganz auf seinen neuesten Geniestreich konzentriert, der am 20. September zeitgleich in den USA und in Deutschland erscheint. Das Ergebnis dieses Schaffensprozesses ist atemberaubend.

Zwei Sklavenkinder, vom Schicksal getrennt

„Habibi“ erzählt die Geschichte von Dodola und Zam, zwei Sklavenkindern, die das Schicksal über viele Umwege miteinander verbindet. Dodola wird bereits als Kind aus ihrem Elternhaus an einen Kalligraphen verkauft, lernt dort Lesen und Schreiben und muss als Kinderbraut für Liebesdienste zur Verfügung stehen. Nach einigen Jahren wird sie von Räubern aus dem Haus entführt. In deren Gefangenschaft kümmert sie sich um den kleinen Zam und flieht nach einigem Zögern mit ihm in die Wüste. In einem Meer aus Sand haben sich die Kinder in ein verwehtes Schiffswrack zurückgezogen. Sie überleben nur, weil Dodola heimlich ihren Körper im Tausch gegen Nahrungsmittel an die Männer der vorbeiziehenden Karawanen verkauft. Eines Tages kommt Dodola nicht von der Karawane zurück. Erneut wird sie verschleppt und in den Palast des Sultans gebracht, wo sie diesem als Haremsdame zur Verfügung stehen muss. Zam seinerseits muss nach Dodolas plötzlichem Verschwinden die Wüste verlassen. In der Stadt des Sultans versucht er vergeblich, als Tagelöhner durchzukommen. Verzweifelt schließt er sich einer Gruppe Eunuchen an und lässt sich selbst entmannen. Als Eunuch bekommt er Zutritt in den Palast des Sultans und in den Harem. So begegnen sich Dodola und Zam nach Jahren wieder, beide von den leidvollen Jahren der Trennung gezeichnet. Sie planen gemeinsam das Unmögliche  und wollen aus dem Sultanspalast ausbrechen. Wer Märchen kennt, weiß wie das ausgeht.

Frau als Ware: Eine Seite aus dem Buch.
Frau als Ware: Eine Seite aus dem Buch.

© Reprodukt

Man könnte das alles auch auf 150 bis 200 Seiten erzählen und damit den Umfang eines durchschnittlichen Comic-Romans erreichen. Thompsons Werk jedoch umfasst sage und schreibe 665 Seiten – und keine einzige Seite, kein Panel, je nicht einmal ein Strich sind zuviel. Craig Thompson erweist sich in „Habibi“ als grandioser Erzähler und leidenschaftlicher Zeichner. Mit Bild und Text eröffnet er ständig neue Ebenen der Erzählung. Er verbindet das Schicksal der Erzählung um Zam und Dodola mit den religiösen Überlieferungen aus dem Koran und der Bibel und lässt die verzaubernden Mythen aus Tausendundeiner Nacht mit einfließen. Auf diese Weise bringt er seinen Lesern die arabische Philosophie und Kultur nahe, führt sie an die gemeinsamen mythologischen Wurzeln der abrahamitischen Religionen Christentum und Islam heran und unterweist sie quasi nebenbei in der Kunst der Kalligrafie und Verzierung. „Habibi“ ist daher auch eine Hommage an die tiefgründige arabische Hochkultur.

Viel mehr als nur die Summe seiner Teile

Insbesondere in diesen Teilen der Erzählung wird deutlich, dass der Comic als Schrift und Bild verbindendes Medium etwas zusammenführt, was ursprünglich eine Einheit bildete. Denn die Kalligrafie ist ebenso wie die ägyptischen Hieroglyphenmalerei oder die Kodexe der Azteken in erster Linie ein Bildwerk. Diese Schriften sind ebenso Kunst wie sie Text sind und bilden eine unzertrennliche Einheit. Diese Einheit prägt auch das Medium Comic. Erst im perfekten Zusammenspiel, wenn Text und Bild harmonieren, entfaltet der Comic seine besondere Faszination. Er erhält dann seine besondere Wirkung, die weit über die Möglichkeiten seine einzelnen Bestandteile hinausgeht. Craig Thompson demonstriert dies in seinem neuerlichen Schwergewicht und beweist seine vollkommenen zeichnerischen Fähigkeiten. Die bis ins kleinste Detail getreuen Ausführungen seiner Tuschezeichnungen, die sorgsam handgeletterten Sprachblasen (in der deutschen Übersetzung durch Michael Hau erfolgt), sein Gefühl für die ideale Komposition von Text und Bild sowie den Bildausschnitt und nicht zuletzt die Wahl des Erzählstils bilden in „Habibi“ ein harmonisches Gefüge.

Die sich über mehrere Seiten hinziehenden Ausflüge in die Traditionen und Mythen der Schriften sind aber nicht einfach nur Ausschmückungen der Erzählung. Es sind Fluchten aus der grausamen Realität, die Dodola und Zam umgibt. Es sind deutende Tagträume voller Hoffnung und Sinnsuche, die es ihnen ermöglichen sollen, die bittere Wirklichkeit für einen Moment zu vergessen oder ihr zumindest irgendeinen Sinn zu geben. Einen Sinn, der sie am Leben hält.

Zwischen Mittelalter und Moderne

Nach seinem religionskritischen Comic „Blankets“ scheint Thompsons Umgang mit Religion hier versöhnlicher. Dies liegt sicherlich daran, dass die Vorarbeiten zu „Habibi“ unter dem Eindruck des Islamhasses in den USA nach den Anschlägen des 11. September 2001 standen. Die gemeinsame Herkunft von Christentum und Islam zu zeigen, ist Thompsons künstlerische Antwort auf die anti-islamische Stimmung in der amerikanischen Gesellschaft. Zugleich scheut er jedoch nicht die Kritik an den monotheistischen Religionen. Er zeigt, was die Menschheit aus den religiösen Überlieferungen des Alten Testaments und des Koran gemacht hat. Seine radikale Kritik der Unterdrückung und Ausbeutung der Frau und der Unterwerfung der Schwächeren zieht sich wie ein roter Faden durch das Werk.

Welt der Gewalt: Die Realität der Hauptfiguren ist voller grausamer Erlebnisse.
Welt der Gewalt: Die Realität der Hauptfiguren ist voller grausamer Erlebnisse.

© Reprodukt

An diesem Punkt hört „Habibi“ auf, Märchen zu sein. Die Erzählung um Dodola und Zam wird zum kritischen Kommentar der gesellschaftlichen Realitäten im arabischen Raum. Möglich ist dies, weil sich Thompson der absoluten Fiktionalisierung bedient, die Märchen bieten. Entgegen kommt ihm dabei der Umstand, dass es zuweilen scheint, als sei der Orient aus der Zeit gefallen. Beim Lesen übersieht man schnell die Anzeichen dafür, dass in der Welt, wie sie Thompson hier entwirft, die Moderne bereits Einzug erhalten hat. Zwar fallen das Meer von Müll auf der Coverinnenseite oder das Motorrad zu Beginn der Erzählung auf, aber ihre Präsenz verschwindet hinter der altertümlichen Kulisse der Erzählung. Erst am Ende des Buches, nachdem Dodola und Zam aus dem Harem geflohen sind und die unmenschliche Welt der allgegenwärtigen Unterdrückung und Ausbeutung hinter sich gelassen haben, ergreift die Moderne Besitz von der Erzählung und rückt in den Vordergrund. Als würde Craig Thompson seinen Lesern sagen wollen, dass Moderne erst dann möglich ist, wenn man dieser mittelalterlichen Welt entkommen und sie überwinden kann.

Was Lutz Göllner an dem Buch missfällt, lesen Sie auf der nächsten Seite.

Poesie der Bilder: Eine der vielen kunstvollen Seiten des Buches.
Poesie der Bilder: Eine der vielen kunstvollen Seiten des Buches.

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Episch: Das Buch, hier das Covermotiv, umfasst 672 Seiten.
Episch: Das Buch, hier das Covermotiv, umfasst 672 Seiten.

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Märchen vom Reißbrett
Von Lutz Göllner

Dass es ein mächtiges Werk werden wird, ahnte man schon. Dass man quasi kugelsicher ist, wenn man dieses Buch in einer Tasche mit sich trägt (Tasche? Was für eine Tasche soll den Wälzer halten?), war dann doch eine Überraschung. Seit sechs Jahren hatte Craig Thompson „Habibi“ angekündigt, war zu Recherchezwecken monatelang in Nordafrika unterwegs. Und wenn man seinen Arbeitsblog auf der Seite www.dootdootgarden.com verfolgte, wunderte man sich nur über die riesigen Papierberge, die Thompson da produzierte.

Nun liegt der Band vor, mit dem Thompson sich vom Realismus seiner letzten beiden Bücher verabschiedet. Er kehrt zurück zu den Märchenelementen, die sein Debüt „Good-bye, Chunky Rice“ vor zwölf Jahren so lesenswert und bewegend gemacht haben.

Hier nun geht es um Dodala und Zam, zwei ehemalige Sklaven, die auf einem Schiff in der Wüste leben. Das arabische Mädchen verkauft ihren Körper an Karawanen um dafür Lebensmittel zu bekommen und beschützt den kleinen schwarzen Jungen. Doch bald reißt das Leben sie auseinander, es wird Jahre (und viele hundert Seiten) dauern, bis die beiden wieder zusammen kommen.

Thompson erzählt diese Geschichte so ausschweifend, als wäre es ein Märchen aus 1001 Nacht, doch leider vergisst man als Leser den Reißbrettcharakter seiner Hauptfiguren dabei nie; sie tun immer genau das, was der Autor will, entwickeln niemals ein eigenes Leben.

Bilderrausch, handgemacht: Eine Seite aus Craig Thompsons Skizzenbuch.
Bilderrausch, handgemacht: Eine Seite aus Craig Thompsons Skizzenbuch.

© Craig Thompson

Dazu kommen nicht enden wollende Abschweifungen über den Koran, die Bibel und den Talmud, die einfach nur ermüdend wirken.

Wenn das Ganze nicht so wunderbar gezeichnet wäre, wenn das nicht zumindest teilweise so anrührend und poetisch geschrieben wäre, man bräuchte nach dem Lesen von „Habibi“ eine große Dosis Insulin.

Craig Thompson: Habibi, Reprodukt, aus dem Amerikanischen von Stefan Prehn, Handlettering von Michael Hau, 672 Seiten, 39 Euro.

Leseproben und weitere Informationen zu dem Buch gibt es auf der Website des Reprodukt-Verlages. Und schöne Einblicke in den sechsjährigen Entstehungsprozess des Buches gibt es unter anderem unter diesem Link.

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