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Verrückte Wendungen: Eine Szene aus dem Buch.

© Carlsen

Graphic Novel: Zur falschen Zeit am falschen Ort

Abgrundtief böse, aber gerecht: Welch skurrile Wendungen das Leben nehmen kann, erzählt Andreas Dierßen in seinem fulminanten Comeback „Die besten Zeiten“.

Blende 1: Ein kurzer Moment des Zögerns, der Unsicherheit. „Ich weiß ja nicht, ich weiß ja nicht. Ich… Ich glaube, ich möchte das doch lieber nicht.“ - „Ach, Herr Lüdekind … Wir haben das doch alles besprochen.“ Es folgen noch zwei, drei aufmunternde Worte, ein kleiner Schluck aus dem Flachmann zur Ertüchtigung, und Herr Lüdekind geht mit seiner in die Jahre gekommenen Räuberbraut auf Beutezug. Man müsse schließlich sehen, wo man bleibt. Blende 2: Wie ein Profi rempelt Herrn Lüdekinds anonyme Begleitung einen schlecht gelaunten Geschäftsmann in der U-Bahn an und nimmt ihm dabei unbemerkt die Brieftasche ab. Blende 3: Beim heimlichen Geldzählen im Hinterhof stellen Herr Lüdekind und Begleitung fest, dass sie doch beobachtet wurden – von einem etwas jüngeren Kleinkriminellen, der ihnen wiederum die Geldbörse abzunehmen versucht. Doch er hat die Rechnung ohne das ausgefuchste Rentnerpärchen gemacht. Mir nichts, dir nichts hat der dahergelaufene Kleinganove eine Pistole im Rücken und zieht den Kürzeren. Doch wer meint, die Geschichte ist hier an ihrem Ende angelangt, der hat sich getäuscht. Blende 4: Ein paar Häuserecken weiter lauert der hinters Licht geführte Halunke dem skurrilen Pärchen auf und schlägt Herrn Lüdekind nieder. Erst zu spät merkt er, dass er sich nicht mehr im Schutz eines Hinterhofs befindet, sondern eben auf offener Straße vor Zeugen einen vermeintlich harmlosen alten Mann niedergeschlagen hat. Manchmal spielt Einem das Leben eben übel mit.

Solche und ähnliche Geschichten erzählt Andreas Dierßen in szenischen Ausschnitten in seinem neuen Comic „Die Besten Zeiten“, mit dem ihm nach jahrelanger Abstinenz eine fulminante Rückkehr in die Comicszene gelangt ist. Ende der Neunziger legte er mit der Detektivgeschichte „Kunz“ bereits einen viel beachteten Comicband vor. Seither hat er sich vor allem als Kinderbuchillustrator einen Namen gemacht.

Verpasste Gelegenheiten, vorbeigezogene Chancen

Sein neuer Comic „Die besten Zeiten“ enthält gezeichnete Episoden, in denen es das Leben mit seinen Protagonisten alles andere als gut meint. „Die Besten Zeiten haben wir gehabt.“, sagt eine seiner Figuren ziemlich am Anfang des Comics, und erhält die ebenso vieldeutige wie nichts sagende Antwort „Auf jeden Fall.“ Solche Dialoge sind es, die Andreas Dierßens beeindruckendes Comeback ausmachen. Dialoge, die sich in ihrer verknappten Art gegen eine eindeutige Lesart sperren und bei denen – wie in diesem Fall – im Dunkeln bleibt, ob sich die zwei Protagonisten schwelgend an ihre einzigartige Vergangenheit erinnern oder bedauern, dass das Beste bereits hinter ihnen liegt.

Viel Pech und noch mehr Unglück: Eine weitere Szene aus dem Buch.
Viel Pech und noch mehr Unglück: Eine weitere Szene aus dem Buch.

© Carlsen

Der Illustrator und Zeichner führt seinen Lesern hier in zahlreichen Geschichten vor, was es heißt, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Seine Anekdoten berichten von verpassten Gelegenheiten und vorbeigezogenen Chancen, von gewollten und versehentlichen Missverständnissen, von viel Pech und noch mehr Unglück. Seine Charaktere sind alle Opfer des eigenen Daseins.

Symbolisch ist etwa die Begebenheit des Mannes an der Ampel, der sich erst beschwert, dass niemand auf den Knopf gedrückt hat, um den Verkehr anzuhalten, sich anschließend darüber empört, dass jemand bei Rot über die Straße geht und dann selbst vergisst, bei Grün die Straßenseite zu wechseln. Was folgt, könnte sich Woody Allen nicht besser ausgedacht haben. Der nächste Passant tippt ihm fragend auf die Schulter: „Haben Sie gedrückt?“

Volltreffer! Versenkt! Der Leser frohlockt und fühlt sich in seiner Abneigung gegen diesen mosernden Pedanten, der seine Rechnung mit dieser Frage umgehend serviert bekommt, bestätigt. Dieser Effekt des frohlockenden Zustimmens durch den Leser zieht sich durch Dierßens Comic wie ein roter Faden. Ein zweiter Effekt, mit dem Dierßen in seinen Szenen arbeitet, ist der der Fassungslosigkeit des Lesers. Etwa wenn der ohnehin schon beklaute Geschäftsmann auch noch in eine Fahrkartenkontrolle gerät und von dem selbstgerechten Kontrolleur vorgeführt wird. Das kann doch nicht wahr sein, durchfährt es den Lesenden. Diese beiden Effektfäden, die ganz auf die Empathie mit den Protagonisten bauen, werden von Dierßen zu einem grandiosen Erzählstrang verflochten.

Surreale Schnipseljagd

Die Episoden sind skurril, absurd und unwahrscheinlich, dennoch wirken sie wie aus dem Leben gegriffen. Dabei arrangiert der Autor sie wie eine surreale Schnipseljagd, in der die einzelnen Begebenheiten miteinander in Verbindung stehen, ohne dass sich das große Bild der alles übergreifenden Erzählung aufdrängt: Das Panorama einer erschreckend unterkühlten Gesellschaft, die sich permanent selbst bestätigt. So wie aus den gesammelten Kurzgeschichten des Leipziger Autors Clemens Meyer die Welt der Gebeutelten emporsteigt, entspringt dem Konglomerat der hier zusammengeführten Anekdoten das Dasein der vom Leben Geprügelten. Meyer und Dierßen erscheinen hier wie zwei Seelenverwandte, wenngleich Dierßens Comic noch bissiger scheint als Meyers Prosa.

Selten geht es dabei gerecht zu. Manchmal aber schon. Etwa wenn ein jüngerer Mann einem älteren Herrn anbietet, dessen Einkäufe nach Hause zu tragen, in der Hoffnung, dass ihm dieser dann wie versprochen einen Wunsch erfüllt, und er am Ende dennoch leer ausgeht. Oder wenn eben dieser ältere Herr mit seiner Ich-bin-eine-Fee-und-erfülle-ihnen-einen-Wunsch-Masche, mit der er sich durchs Leben mogelt, schließlich gehörig selbst auf die Nase fällt.

Dierßens hat in „Die besten Zeiten“ ein skurriles Weltpanorama geschaffen, in dem jeden irgendwann seine gerechte Strafe ereilt. Man könnte dies als Fatalismus oder Religiosität auslegen, es ist jedoch nur Spieltrieb. Im Stile eines Woody Allen führt Dierßen hier vor Augen, welch verrückte Wendungen das Leben manchmal nehmen kann. Die Ausschnitte, in denen er gewitzt vom Alltag seiner skurrilen Charaktere erzählt, überschneiden sich dabei immer wieder. Die spröden Dialoge, die er seinen Protagonisten in den Mund legt, spielen mit den Bedeutungsebenen der Sprache und nehmen dem fassungslosen Leser den Atem. Nicht einmal, sondern immer wieder. So arrangieren sich Dierßens gezeichneten Anekdoten zu einem bissigen, gemeinen und abgrundtief bösen Episodenfilm, dem der Leser mit ebensoviel Fassungslosigkeit wie Vergnügen verfolgt. Denn was den Personen darin geschieht, scheint am Ende auch irgendwie gerecht.

Andreas Dierßen: Die Besten Zeiten. Carlsen Verlag 2011. 160 Seiten, 19,90 Euro

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