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Leben und sterben lassen: Eine Car-Boy-Episode.

© Reprodukt

Independent-Comic: Sprunghafter Wahnsinn, tiefe Nächstenliebe

Der Sammelband „Container“ bringt erstmals Max Anderssons frühe Underground-Comics in einem Band zusammen. Geschmackliche Grenzüberschreitungen im Sekundentakt verleihen dem warmherzigen Nihilismus des Schweden die komische Fallhöhe.

Nicht nur im Zeichenstil erinnert der 1962 geborene Andersson an Künstler wie den Amerikaner Mark Marek, welcher laut Lambieks Comiclopedia „die Grenze zwischen dem Primitiven und dem Wilden“ auslotet. Beide haben Verbindungen zur Musik: Marek gestaltete Cover oder Innenhüllen von Schallplatten für Musiker wie den Rolling Stones oder They Might Be Giants, und der sechs Jahre jüngere Andersson kreierte einen (inoffiziellen) Videoclip zu „One Hundred Years“ von The Cure. Der Song stammt vom 1982 veröffentlichten Album „Pornography“ und ist auf Grund der zwischen Regression und Aggression pendelnden vermittelten Stimmung nicht nur das am schwersten zugänglichste Werk dieser Band, sondern steht auch charakteristisch für Strömungen innerhalb der damaligen populären Kultur.

Es war eine Zeit der konservativen „geistig-moralischen Wende“ und der Repression. In Deutschland regierte nach einem konstruktiven Misstrauensvotum Helmut Kohls christlich-liberale Koalition, Großbritannien begann unter Regentschaft der eisernen Lady Margaret Thatcher von der Conservative and Unionist Party eine militärische Auseinandersetzung mit Argentinien um die Falkland-Inseln, und die USA durchlebten mit ihrem republikanischen Präsidenten Ronald Reagan ein weiteres Kapitel der Bonzo-Jahre. Gleichzeitig fanden im Bangen um ein Zustandekommen des Kompromisses zur Abrüstung sämtlicher Mittelstreckenraketen in Europa die bis dato größten Demonstrationen innerhalb Deutschlands und der USA für Frieden und Abrüstung statt. In Erlangen wurde außerdem das erste Retorten-Baby geboren und mit ‚Elk Cloner‘ unter dem Zeitgeist gehorchender Benennung ebenfalls der erste Computervirus.

Halluzinierende Momente: Eine Seite aus dem Buch.
Halluzinierende Momente: Eine Seite aus dem Buch.

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All diese Ereignisse finden ihre Entsprechung in Max Anderssons fast ausnahmslos dem Zeitraum der 1980er und 1990er Jahre entstammenden Werken, die überwiegend schwarzweiß gehalten sind und vordergründig von Nihilismus durchtränkt wirken: Insbesondere der Fötus aus dem Totenreich, der die weibliche Hauptfigur und Mutter Angina nach seiner Abtreibung telefonisch drangsaliert, greift eine zunehmende Fraternisierung von Biologie und Technologie auf und setzt diese in konsequentem Irrsinn fort. Autoschlachthöfe mit an Ketten aufgehängten und ausgeweideten Fahrzeugen erinnern an den 1976er Terror-/Horrorfilm „The Texas Chainsaw Massacre“ von Tobe Hooper, der die 1980er Jahre nachhaltig prägte, nicht nur durch die von ihm mit ausgelösten rigiden Zensurmaßnahmen. Ebenso als Reminiszenz erkennbar sind die ein Eigenleben führenden Mietshäuser in Anderssons wüsten Fantasielandschaften. In ironisierter Form übermitteln diese skurrilen Bauwerke Grüße an die psychotropische Architektur des Science Fiction-Avantgardisten James Graham Ballard (1930 – 2009).

Das zu jener Zeit offiziell in den Mainstream-Medien propagierte gesellschaftliche Erfolgsmodell vom Yuppie-Leben (‚Young Urban Professionals‘) ist Ausgangspunkt für eine sich dem Erfolg unterordnende Lebensweise um jeden Preis: „Schnieff, jeder hat einen Job, nur ich nicht“ heißt es in der Geschichte „Konsum“, in der an Fleischtheken Kundenwünschen gerecht zu werden mitunter den Vollzug von Selbstverstümmelung bedeuten kann. So bildet sich ein durch optimierte Ökonomisierung und drohende Permanenz nuklearer Vernichtung bestellter Humus eines langsam verrottenden Kapitalismus, welcher in Car-Boys Keller Fleischbäume aus den Körpern seiner toten Eltern gedeihen lässt. Diese haben nicht nur kleine Kinder zum Fressen gern.

Komplett: Das Cover des Sammelbandes.
Komplett: Das Cover des Sammelbandes.

© Reprodukt

Zur Hochform läuft der vom sprunghaften Wahnsinn und tiefer Nächstenliebe gleichzeitig motivierte Andersson auf, wenn er in der Geschichte „Container“ Panels voll halluzinierender Momente mit Ornamenten verziert und unorthodox anlegt. Stilistisch weiß er die fragile Art figurativer Darstellung sowie den Einsatz von kräftigen Tuschestrichen thematisch angemessen zu verbinden. Es entsteht eine bei aller sichtbar werdenden Abstrusität immer sympathische Figurenzeichnung, die zur Identifikation einlädt und ein scheinbar unerschöpfliches Ideenreservoir offenbart. Und er zeigt nebenher auf, was dem technisch beeindruckenden, aber letztlich oft blutleer bleibendem Kunsthandwerk von Craig Thompsons „Habibi“ gefehlt hat: Die beseelte Synthese aus Finesse und Relevanz.

Max Andersson: Container - Gesamtausgabe. Reprodukt, aus dem Schwedischen von Beatrice Faßbender, Handlettering von Max Andersson, 280 Seiten, 29 Euro. Leseproben hier.

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