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Und Action: Eine Seite aus "Ikarus".

© Schreiber & Leser

Jiro Taniguchi: Der vertraute Fremde

Im Westen gefeiert, in Japan kaum beachtet: Zwei Neuveröffentlichungen führen exemplarisch vor, was Jiro Taniguchi von anderen Manga-Autoren unterscheidet.

Jiro … wer? Wenn man als westlicher Besucher in den Manga-Läden von Tokio nach Büchern jenes Zeichners fragt, der daheim als Manga-Star gefeiert wird, provoziert das beim Personal fragende Blicke. Taniguchi …? Nach einigem Suchen führen die Verkäufer dann in eine hintere Ecken des Ladens, wo sich eine Handvoll Bücher des 68-jährigen Autors findet, weitab von den gut gefüllten Bestseller-Paletten im Eingangsbereich, auf denen die aktuellen Erfolgstitel in hohen Stapeln liegen. Jiro Taniguchi hingegen, der kürzlich beim Internationalen Comic-Salon Erlangen als „einer der größten lebenden Manga-Künstler und einer der einflussreichsten grafischen Erzähler überhaupt“ mit einer umfangreichen Ausstellung gewürdigt wurde, ist in seiner Heimat alles andere als ein Star.

Einige der Gründe für dieses Phänomen vermitteln zwei neue Bücher des Zeichners, die jetzt fast zeitgleich auf Deutsch veröffentlicht wurden: Die deutsche Erstausgabe der Ende der 90er Jahre entstandenen Science-Fiction- Erzählung „Ikarus“ nach einem Skript des französischen Comicautors Jean Giraud alias Moebius (1938–2012) führt vor Augen, wie groß die Bedeutung westlicher Comic-Vorbilder für Taniguchis Stil ist. In der Comicszene seines protektionistischen, primär auf eigene nationale Leistungen ausgerichteten Heimatlandes ist das eine Seltenheit.

Ikarus: Cover des besprochenen Bandes.
Ikarus: Cover des besprochenen Bandes.

© Schreiber & Leser

Die Traumwelten von Moebius entdeckte Taniguchi ab Mitte der 70er Jahre – Ausgangspunkt der Hinwendung des Japaners zu einem Zeichenstil in der Tradition der europäischen „Ligne Claire“: aufgeräumte Einzelbilder mit Figuren, die auf wenige Linien reduziert sind und vor detaillierten, naturalistisch gezeichneten Kulissen agieren.

Manchmal wird es schmalzig

Diesen Stil kombinierte der Zeichner ab Mitte der 1980er Jahre zunehmend erfolgreich mit japanischen Themen, von Biografien heimischer Schriftsteller der Meji-Zeit über den Wettkampf zweier japanischer Bergsteiger um die gewagtesten Erstbesteigungen („Gipfel der Götter“, Schreiber & Leser) bis zu autobiografischen Erzählungen wie „Ein Zoo im Winter“ und sein Schlüsselwerk „Vertraute Fremde“ (1998, auf Deutsch bei Carlsen). Das 400-Seiten-Epos über die Zeitreise eines Architekten in die eigene Jugend wurde 2010 von Sam Gabarski verfilmt.

Taniguchis Stärke sind stille, introspektive Erzählungen mit melancholischen Untertönen. In seinen Büchern etablierte er eine kontemplative Erzählweise, die viel mit Andeutungen und Unausgesprochenem arbeitet: die Entdeckung der Langsamkeit in Comicform als Gegenentwurf zu den dynamischen, oft vor Energie überbordenden Arbeiten vieler Bestseller-Mangaka. Kleinen, teils banal wirkenden Ereignissen widmet er viel Aufmerksamkeit, was beim Lesen einen fast meditativen Effekt erzielen kann. Eine wichtige Rolle spielen dabei die Gesichter seiner Figuren, die oft einen freundlichen, idealisierten Ausdruck haben und mit realistisch gezeichneten Augen feinste Gefühlsnuancen vermitteln können.

Gelegentlich setzt er dabei allerdings so stark auf Klischees und emotionale Effekte, dass es schmalzig wird. „Ihr Name war Tomoji“, die jetzt auf Deutsch veröffentlichte biografische Annäherung an eine buddhistische Nonne, macht das exemplarisch deutlich. Zudem zeigt das Buch, wie sehr sich Taniguchis aus statisch wirkenden Einzelbildern komponierte Erzähltechnik und seine stark auf die Vergangenheit ausgerichtete Themenauswahl von dem unterscheiden, was den zeitgenössischen japanischen Manga ausmacht.

Zeit und Raum: Eine Doppelseite aus "Ihr Name war Tomoji".
Zeit und Raum: Eine Doppelseite aus "Ihr Name war Tomoji".

© Carlsen

Die zusammen mit der Szenaristin Miwako Ogihara geschaffene und 2014 in Japan veröffentlichte Erzählung führt in ein Frauenleben zwischen Entbehrungen, Schicksalsschlägen und traditionellen Verhaltensregeln in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein. Das ist dank der zeichnerischen Kunstfertigkeit Taniguchis und seiner für die Hintergründe zuständigen Assistenten visuell so ansprechend, wie man es von ihm gewohnt ist.

Inhaltlich allerdings ist die als Auftragsarbeit einer buddhistischen Zeitschrift entstandene Erzählung dürftig und wirkt wie aus der Zeit gefallen. Hier dominiert etwas zu sehr die nostalgische Ader des Zeichners, die in manchen Erzählungen einen angenehmen melancholischen Grundton erzeugt, aber leider immer wieder auch in Kitsch umschlagen kann.

„Der Gourmet“ als Bestseller

Ganz frei von Kitsch ist auch „Ikarus“ nicht, wenngleich hier die Erzählweise weniger introspektiv und mehr vom Plot getrieben ist. Im Zentrum des Science- Fiction-Thrillers steht ein fliegender, der Welt entrückter Junge, dessen einzigartige Fähigkeiten Militärs und Wissenschaftler beherrschen wollen, was eine Kette verhängnisvoller Ereignisse auslöst.

Ihr Name war Tomoji: Cover des zweiten besprochenen Bandes.
Ihr Name war Tomoji: Cover des zweiten besprochenen Bandes.

© Carlsen

Die Erzählung verbindet traumartige Sequenzen von filigraner Schönheit mit – ja, auch das kann Taniguchi, wenn er will – knallharten Action-Elementen, die an Genre- Klassiker wie „Akira“ erinnern, jene Serie, die vor 25 Jahren im Westen den Manga-Boom auslöste. Taniguchis Hang zu klaren, anmutigen Einzelbildern bildet hier einen spannungsreichen Kontrast zu den teils enorm dynamischen Szenen, mit denen die Handlung vorangetrieben wird. In Japan erschien die Erzählung 1997 in dem Wochenmagazin „Morning“ – kam aber bei den Lesern nicht gut an, sodass sie unvollständig blieb und erst Jahre später als Buch in kleiner Auflage veröffentlicht wurde.

Flaneur: Manga-Autor Jiro Taniguchi beim Spaziergang durch eines seiner Lieblingsviertel in Tokio.
Flaneur: Manga-Autor Jiro Taniguchi beim Spaziergang durch eines seiner Lieblingsviertel in Tokio.

© Lars von Törne

Den bislang wohl größten Erfolg in Japan hat Taniguchi mit der nach einer Vorlage des Autors Masayuki Kusumi geschaffenen Episoden-Erzählung „Der Gourmet“, die vergangenes Jahr beim Comicfestival München als bester asiatischer Manga ausgezeichnet wurde. Die Hauptfigur besucht in jeder Episode ein neues Restaurant und wird von den Gerichten zu Gedanken und Erinnerungen angeregt. Dass gerade diese Reihe in Japan erfolgreicher als alle anderen Arbeiten Taniguchis ist, hat allerdings nur wenig mit seiner Zeichenkunst zu tun: Sie wurde ab 2012 sehr erfolgreich als TV-Serie adaptiert.

Jiro Taniguchi und Moebius: Ikarus, Schreiber & Leser, 312 Seiten, 24,95 Euro
Jiro Taniguchi und Miwako Ogihara: Ihr Name war Tomoji, Carlsen, 184 Seiten, 16,90 Euro

Den Videomitschnitt eines Gesprächs von Christian Gasser Corinne Quentin (Agentin Jirō Taniguchi) und Lars von Törne über Jiro Taniguchi auf dem Internationalen Comic-Salon finden Sie hier.

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