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KANADISCHE COMICS: Die Rache der Holzfäller

Natur und Alltag, Abenteuerspielplätze und nationale Mythen: Neue kanadische Comics laden zu Entdeckungsreisen ein.

Ein Kanadier ist jemand, der in einem Kanu Liebe machen kann, hat der Autor Pierre Berton einmal festgestellt – eine Metapher für die Naturverbundenheit seiner Landsleute und für den besonderen Hang zur Ausgeglichenheit, den man ihnen nachsagt. Und tatsächlich: In Michel Rabagliatis Geschichten aus der kanadischen Wildnis findet sich auch eine Liebesszene im Kanu. In „Pauls Ferienjob“, dem ersten jetzt auf Deutsch veröffentlichten Comic-Roman des Québecer Autoren und Zeichners, kommt die Hauptfigur Paul seiner Angebeteten auf dem Wasser näher – ohne dass das zerbrechliche Boot umkippt.

Die in cartoonhaftem Stil gezeichnete Romanze illustriert einen Trend bei kanadischen Comic-Neuerscheinungen: die Besinnung auf landestypische Eigenschaften. Etwa auf die für europäische Verhältnisse schier endlose Natur im flächenmäßig zweitgrößten Land der Erde. Oder auf Kanadas duale Tradition als teils britische, teils französische Kolonie. Nicht fehlen darf da also auch das Kanu, in dem einst europäische Fallensteller das Land eroberten und das bis heute zum Kanon nationaler Klischees gehört.

Vordergründig erzählen Rabagliatis fortlaufend veröffentlichte Paul-Geschichten – in Kanada erschien kürzlich der fünfte Band – in lakonischem, teils selbstironischem Ton vom Alltag und Reifungsprozess eines jungen Mannes, seiner Freunde und Familie im frankophonen Kanada. Dazu aber kommt eine zweite Geschichte: die von Kanada als dünn besiedeltem Land, in dem der Mensch mit der ihn umgebenden Landschaft aufs intensivste konfrontiert wird.

In „Pauls Ferienjob“ ist dies ein Waldgebiet, in dem die Hauptfigur – wie einst Rabagliati selbst – als Betreuer von Jugendgruppen den Sommer verbringt. Fernab von den Segnungen und Herausforderungen der Großstadt ist Paul plötzlich auf sich selbst zurückgeworfen. Im Laufe des Sommers wird aus dem ziellosen, unreifen Schulabbrecher ein verantwortungsvoller Erwachsener, der sein Leben in die Hand nimmt.

Rabagliati ist mit seiner Rückbesinnung auf die Wurzeln der kanadischen Identität in guter Gesellschaft.

Scott Chantler, ein seit einigen Jahren vor allem in den USA erfolgreicher Zeichner von Abenteuergeschichten im Fünfziger-Jahre-Retrostil, hat in seiner kürzlich beendeten Comic-Serie „Northwest Passage“ die Kämpfe zwischen britischen und französischen Eroberern um die rohstoffreichen Weiten Nordkanadas dargestellt – ebenfalls mit etlichen Kanu-Szenen.

Und der aus Toronto stammende Autor und Zeichner Jeff Lemire schließt gerade eine Trilogie ab über seine Jugend auf einem Bauernhof im südlichen Ontario und seine Leidenschaft für den kanadischen Nationalsport Eishockey.

Mit bemerkenswertem Feingefühl platziert er seine mit scharfen Tuschestrichen skizzierten, kantigen Charaktere in die fast menschenleeren Weiten des Farmlandes von Südontario. Während Scott Chantler die kanadische Natur mehr als Abenteuerspielplatz sieht, ist diese in Jeff Lemires Geschichten die Quelle von ambivalenten Gefühlspaaren wie Freiheit und Einsamkeit, Geborgenheit und Enge.

Das Landleben als schützender und zugleich oft einschränkender Rahmen für die Entwicklung menschlicher Beziehungen – dies ist auch der rote Faden für ein farbenfrohes, vor Lebensfreude nur so strotzendes Comic-Epos, an dem zwei Wahl-Quebecer seit einigen Jahren arbeiten und dessen dritter Band demnächst auf Deutsch erscheint. „Das Nest“, in der frankokanadischen Provinz der dreißiger Jahre angesiedelt, handelt von den Bewohnern eines Dorfes und ihrer ambivalenten Reaktion auf einen Fremden, der zu ihnen stößt.

Geschrieben und gezeichnet haben es zwei Altmeister der Comic-Literatur, die vor ein paar Jahren ihren Wohnsitz aus Frankreich nach Montréal verlegt haben: Der Zeichner Régis Loisel, in Deutschland unter anderem bekannt geworden durch seinen Peter-Pan-Comic, sowie sein Kompagnon Jean-Louis Tripp, der von den beiden als Autor und Reinzeichner fungiert. Inspiriert von Filmregisseur Frank Capra wollen die beiden „das Leben der einfachen Leute preisen“, wie Jean-Louis Tripp es ausdrückt.

Das gelingt ihnen in „Das Nest“ meisterhaft – vor allem dann, wenn die Geborgenheit einerseits und die erdrückende Enge des Dorflebens andererseits sich langsam zu einer dramatischen Geschichte verdichten, In deren Zentrum steht die Beziehung einer jungen Witwe zu dem unerwartet ins Dorf gekommenen Fremden. Dessen Auftreten missfällt vor allem den Männern des Ortes, die den Winter über als Holzfäller arbeiten und die nach der Rückkehr aus den Wäldern im Frühling mit Gewalt versuchen, die alte Ordnung wiederherzustellen.

Dabei erzählen Loisels und Tripps akribisch gezeichnete und getuschte Bilder nicht nur von der Vergangenheit. Verfolgt man die aktuelle frankokanadische Integrationsdebatte, die durch fremdenfeindliche Vorkommnisse in der Québecer Provinz provoziert wurde, so vermag ein Buch wie „Das Nest“ viel zum interkulturellen Verständnis beitragen.


Michel Rabagliati: Pauls Ferienjob, Edition 52, 152 Seiten, 17 €.

Regis Loisel & Jean-Louis Tripp: Das Nest, bislang drei Bände auf Deutsch bei Carlsen, je 70-80 Seiten, je 18 €.

Scott Chantler: Northwest Passage, bislang nur auf Englisch, Oni Press, 270 Seiten, ca. 14 €.

Jeff Lemire: Essex-County-Trilogie, bislang nur auf Englisch bei Top Shelf, Bd. 1 Tales from the Farm, 112 S., ca. 7 €, Bd. 2 Ghost Stories, 220 S., ca. 11 €.

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