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Postmoderne Wundertüte: Eine Szene aus dem Buch.

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Literatur-Comic: Psychoaktive Lethargie

Alan Moore und Kevin O'Neill veröffentlichen mit „1969“ den zweiten Teil der „League of Extraordinary Gentlemen“-Trilogie „Century“. Halb Suchspiel, halb Abenteuergeschichte, reißt einen der Trip ins Swinging London allerdings nicht so richtig mit.

Die Stimmung in der Liga war auch schon mal besser. Eifersucht, Langweile, Selbstzerfleischung prägen das Bild in der aus literarischen Figuren zusammengestellten Agententruppe. Aber ein bisschen Lagerkoller lässt sich wohl nicht vermeiden, wenn man ständig aufeinander hockt – und die eigene Unsterblichkeit nicht mal die Aussicht auf Veränderung zulässt.

Wir schreiben das Jahr 1969. Seit den blutigen Geschehnissen im Hafen von London im ersten Band der Century-Trilogie sind 59 Jahre vergangen. Captain Nemos Tochter, die den Wirbel damals ausgelöst hatte, ist eine alte Frau geworden, die Welt hat Drogen und freie Liebe entdeckt und in England stirbt ein Rockstar namens Basil Thomas im Pool seines Hauses. Wie sich schnell zeigt, ist sein Ableben das Werk des tot geglaubten Okkultisten Oliver Haddo, der immer noch die Ankunft des Antichristen vorbereitet. Also macht sich die Liga, oder vielmehr die letzten Überlebenden – namentlich Allan Quatermain, Mina Harker und Orlando –  auf ins Swinging London.

Fleisch, Sex, Satanismus

War das letzte mal die „Dreigroschenoper“ der rote Faden, der sich durch die Geschichte zog, ist es diesmal der Tod des Gitaristen Brian Jones und das anschließende Memorial-Konzert der Rolling Stones im Hyde Park. Wie es die Klischees wollen, gibt es viel Fleisch, viel Sex und Satanismus, viele Drogen. Das Finale ist ein einziger langer Pop-Art-Acid-Trip.

Lagerkoller: Eine Szene aus dem Buch.
Lagerkoller: Eine Szene aus dem Buch.

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Und natürlich ist auch dieser Band wieder bis oben hin vollgestopft mit Zitaten aus Werken der Popkultur: Moore hat „Sympathy for the Devil“ neu betextet, O'Neill versteckt in seinen Bildern Figuren aus Harry Potter, aus dem Film „Get Carter“ und den Serien „Thunderbirds“ sowie „Dr. Who“, es gibt Anspielungen auf die Beatles, „Rosemary's Baby“, japanische Monsterpornos und, und, und .... Wer richtig Exegese betreiben will, dem seien Jess Nevins' ständig wachsende Bild-für-Bild-Aufschlüsselungen empfohlen.

Knallig, aber zweidimensional

So weit also alles wie gehabt, und wer nicht mehr als eine Erwachsenen-Version von „Wo ist Waldo?“ sucht, wird mit dem Band „1969“, der kürzlich auf Englisch erschienen ist, Stunden glückseligen Rätselspaßes verbringen. Wer mehr erwartet – und das wäre bei den Leistungen eines Autoren, dessen Comic „Watchmen“ auf der Time-Magazine-Liste der 100 besten Bücher des 20. Jahrhunderts auftauchte nicht abwegig – könnte diesmal allerdings enttäuscht werden.

Das Problem ist die Geschichte selbst. Relativ arm an Spannung und erstaunlich vorhersehbar laufen die Ermittlungen stur auf das erwartbare Ende zu. Es gibt ein paar mehr Hinweise auf Mina Harkers ausgemusterte Superheldentruppe „League of Marvels“ und Backgroundinfos zu Oliver Haddo, aber all das ist Trivia und kein Plot. Auch die zunehmend lustlosen Streitereien der Charaktere, die sich in einer zermürbenden Dreiecksbeziehung verrannt haben und sich mit ihren Problemen, Süchten und Neurosen beschäftigen, mögen die Psychogramme vervollständigen, dienen aber nicht dem Aufbau einer spannenden Storyline, wie wir sie aus den vorangegangenen Bänden kennen.

Pop-Art-Acid-Trip: Das Cover des Buches.
Pop-Art-Acid-Trip: Das Cover des Buches.

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Und auch Kevin O'Neills Bilder haben diesmal etwas unverständlich Unfertiges an sich – gelegentlich sind die Gesichter der Nebenfiguren kaum wiederzuerkennen. Außerdem befremdet die unglaublich knallige aber zweidimensional wirkende Kolorierung. Diese extreme Künstlichkeit mag gewollt und ein Kommentar in sich sein, ist aber weit entfernt von der Atmosphäre, die die schummrigen Bilder der Vorgänger erzeugen konnten.

So voll diese postmoderne Wundertüte auch gestopft ist und so viel zum Nachdenken über Emanzipationsbewegung, esoterische Heilsversprechen und Rockmusik als Religionsersatz in „1969“ auch stecken mag, auf Dauer springt die Lethargie der Protagonisten auf den Leser über.

Alan Moore & Kevin O'Neill, „The League of Extraordinary Gentlemen – Century: 1969“, Top Shelf, 80 Seiten, ca. 7-9 Euro (Import).

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