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Schicksalsgemeinschaft: Die Hauptfigur von "Sweet Tooth", Gus, und sein künftiger Weggefährte Jepperd bei ihrer ersten Begegnung.

© Panini

Porträt: Menschen, Tiere, Ambitionen

Wie kaum ein anderer ist der Zeichner und Autor Jeff Lemire mit Autorencomics und Mainstream-Genreserien gleichermaßen erfolgreich. Inzwischen erscheinen auch seine Dystopie „Sweet Tooth“ und die Horror-Reihe „Animal Man“ auf Deutsch, kommende Woche folgen zwei weitere Werke. Kunst und Kommerz in Einklang zu bringen, bereitet dem Kanadier allerdings zunehmend Probleme.

Der mit zahlreichen Auszeichnungen und Nominierungen bedachte Comicautor und -zeichner Jeff Lemire ist seit seinem Engagement im Jahr 2009/10 bei DC Comics neben Scott Snyder einer der Autoren, die vielfältig innerhalb der Produktionen des amerikanischen Verlagshauses eingesetzt werden. Bisweilen entsteht der Eindruck, DC suche nach dem Weggang seines prominenten Aushängeschildes Grant Morrison händeringend nach einem ähnlich populären Ersatz - mit entsprechendem Renommee bei einer größtmöglichen Schnittmenge an am Comic interessierten Lesern. Als Verfasser von anspruchsvolleren Autorencomics wie auch populärer Genrestoffe weiß Lemire diese, wenn auch in jüngster Vergangenheit zunehmend eingeschränkt, zu bedienen.

Begonnen hat der kanadische Autor und Zeichner 2003 mit ersten Stilübungen in dem in Eigenregie herausgegebenen Anthologie-Magazin „Ashtray“. 2005 legt er dann mit „Lost Dogs“ sein erstes längeres Werk vor. Technisch noch etwas holprig wirkend, werden hier in dick getuschten Linien Lemires Kernthemen Familie und auseinandersetzungsfreudige Sportarten als Metapher für den Kampf des Einzelnen gegen widrige Umstände verhandelt.

Ein Jahr später stellt er als Gastzeichner in der Serie „Beowulf“, einer in die Gegenwart verlegten englischen Sage, frühzeitig seine vielseitige Einsatzbereitschaft unter Beweis. Und 2007 demonstriert Lemire an Hand des ersten Teils seiner autobiographisch geprägten „Essex County“-Trilogie – die inzwischen bei Edition 52 komplett auf Deutsch vorliegt - nicht nur sein Verständnis vom eskapistischen Potenzial der Figur des Superhelden, sondern empfiehlt sich damit auch gleichzeitig für das DC-Sublabel Vertigo.

Viel mehr als nur „Mad Max mit Geweih“

Dort erscheint im darauffolgenden Jahr, mit Beendigung der eben erwähnten Trilogie im Jahr 2008, der in sich abgeschlossene und von H. G. Wells´ „Der Unsichtbare“ inspirierte Einzeltitel „The Nobody“, eine Parabel über durch Stigmatisierung ausgelöste Ausgrenzung und Entfremdung, die Mitte Januar bei Panini auf Deutsch erscheint. Lemire experimentiert darin mit der Integration anderer Zeichentechniken wie beispielsweise Aquarellierungen innerhalb der bisher von ihm gewohnten Darstellungsweisen.

Im Anschluss daran startet er sein nächstes Vertigo-Projekt, die Dystopie „Sweet Tooth“. Die Serie wurde im Original soeben mit Heft 40 abgeschlossen, auf Deutsch hat Panini die ersten zwei Sammelbände vorgelegt. Kürzlich wurde die Reihe von einer vom Tagesspiegel zusammengestellten Jury von Comic-Journalisten zu einem der besten Comics des vergangenen Jahres gekürt.

Ausgezeichnet: "Sweet Tooth" - hier die Cover der ersten beiden deutsche Sammelbände - wurde kürzlich von einer Tagesspiegel-Jury als einer der besten Comics des vergangenen Jahres gekürt.
Ausgezeichnet: "Sweet Tooth" - hier die Cover der ersten beiden deutsche Sammelbände - wurde kürzlich von einer Tagesspiegel-Jury als einer der besten Comics des vergangenen Jahres gekürt.

© Panini

Bereits 2006 beschäftigt sich Lemire erstmals mit einem post-apokalyptischen Szenario in der nie beendeten Fortsetzungsgeschichte „The Fortress“. Der zweite Versuch innerhalb dieses Genres wird allerdings durch plakative Bezeichnungen wie „Mad Max mit Geweih“, wie es USA Today werbewirksam und umschlagaufdruckkompatibel formulierten, nur mehr unzureichend beschrieben. Denn wo ein Film wie „Mad Max“ als auch thematisch verwandte und überaus erfolgreiche Comic-Serien à la „The Walking Dead“ die mit dem Zivilisationskollaps einsetzende Verrohung zelebrieren und Rollenbilder oftmals ins Archaische zurückentwickeln, setzt „Sweet Tooth“ auf differenzierte Charakterzeichnung in einem stets unfertig und skizzenhaft wirkenden Strich. Einer Welt, die zwischen Auseinanderbrechen und dem Versuch bescheidener Restrukturierung hin- und her wankt, wird durch derartige stilistische Kniffe – und mittels entschleunigter Abfolge der Bildsequenzen - eine zusätzliche dramaturgische Dimension verliehen. Erneut ist Dekompression eines der angewandten Mittel Lemires zur Handlungsintensivierung, ähnlich wie zuvor in „Essex County“ und „The Nobody“ erprobt. Der grobmotorische Strich, welcher eine entfernte Verwandtschaft zur Methodik des Holzschnitts aufweist, provoziert darüber hinaus neben dem von Hauptfigur Gus getragenen karierten Lumberjack-Hemd Assoziationen mit mühsamer Handarbeit und traditionellen Werten - ein Verfahren, von dem das agrikulturelle Setting in „Essex County“ gleichfalls profitierte.

Lemires Superhelden-Ausflüge sind zum Teil enttäuschend

Wohl gibt es auch in „Sweet Tooth“ die genreüblichen marodierenden Banden, kryptofaschistische oder sektiererische Gruppendynamik sowie Misogynie, doch nie beutet Lemire derartige Missstände sensationsheischend aus. Vor allem aber lässt er seinen Figuren immer die Option des Charakterwandels. Derartige im Realismus fußende Ambivalenz zeigt sich beispielsweise bei der Darstellung von Johnny oder Dr. Singh, Handlanger einer Wissenschaftsmiliz, welche Gus zu Forschungszwecken in einem Lager interniert. Ebenso erspart Lemire dem Leser sinnentleerte Gewaltdarstellungen ohne Handlungsrelevanz, wie erst kürzlich in der hundertsten Ausgabe von „The Walking Dead“ mit der Zertrümmerung eines menschlichen Kopfes über fünf Seiten hinweg geschehen.

Lemires praktizierte Humanität macht die „Sweet Tooth“-Saga um die von verschiedenen Interessengruppen verfolgten Kinder, die halb Tier und halb Mensch sind, zu einer der menschlicheren Anti-Utopien der letzten Zeit - obwohl auch hier dem Sujet geschuldete Grausamkeiten nicht ausbleiben. Wie auch das vom Autor erdachte Bestiarium einer aus den Fugen geratenen Natur weiß das Ideenreichtum der Erzählung trotz einiger Vorhersehbarkeiten zu begeistern. Gespannt steuert man unter gekonnter Plot-Führung die Auflösung der Frage „Was ist die Ursache?“ an, deren Antwort voraussichtlich irgendwo in den eisigen Landschaften Alaskas zu finden sein wird. Im Kern aber bleibt „Sweet Toth“ eine Erzählung über das Heranwachsen und den Versuch, verloren gegangene familiäre Strukturen aufzubauen. Nicht zufällig trägt die geweihbewehrte und naschwerkaffine Hauptfigur Gus denselben Namen wie Lemires eigener Sohn.

Jungstar: Lemire - hier auf dem Comicfestival von Toronto - ist noch keine 37 Jahre alt.
Jungstar: Lemire - hier auf dem Comicfestival von Toronto - ist noch keine 37 Jahre alt.

© Lars von Törne

Eine ähnliche Mission der Familiengründung obliegt den Außenseitern des Städtchens Smallville in Lemires Version von „Superboy“, erschienen 2010. „Superboy“ ist neben „Atom“ einer von DCs weniger populären Titeln, in denen Lemire erste Gehversuche als Autor im Superhelden-Bereich des Verlages unternimmt. Bei der zeichnerischen Umsetzung durch Mahmud Asrar im Falle von „Atom“ und (überwiegend) Pier Gallo bei „Superboy“ regiert das Mittelmaß beziehungsweise der Standard US-amerikanischer Superheldenmassenware. Und zumindest „Atom“ ist nicht weiter der Rede wert, Lemire hat der Historie eines der kleinsten Superhelden der Welt nicht viel Neues hinzuzufügen. Anders bei „Superboy“: Vom bemerkenswerten „Essex County“-Selbstzitat in der ersten Ausgabe, dem aber leider bald triste Ereignisarmut folgt und die in den Heftnummern 6 und 7 zusätzlich durch ein lähmendes Crossover potenziert wird, begibt sich Lemire in den letzten drei Heften auf unerwartete Höhenflüge und sorgt so vor der Einstellung der Serie mit dem elften Heft noch einmal für eine Überraschung.

Das Hoch innerhalb seines Schaffens für reguläre DC-Titel setzt sich mit der dreiteiligen Mini-Serie „Frankenstein And The Creatures Of The Unknown“ innerhalb des verlagsinternen Flashpoint-Crossovers fort. Deren Weiterführung als laufende Serie, nun unter dem Titel „Frankenstein, Agent Of S.H.A.D.E.“ und ab Mitte Januar auch auf Deutsch bei Panini, erweist sich jedoch für eine halb im Horror-Genre verwurzelte Serie als geradezu blutarm. Weder kann Lemire an das große Vorbild „B.U.A.P.“ von Mike Mignola, Duncan Fegredo und Guy Davis anknüpfen, noch an die zeitgleich eine ähnliche Thematik beackernde Marvel-Mini-Serie „Legion Of Monsters“ von Dennis Hopeless und Juan Doe heranreichen.

Sind Lemires beste Jahre schon vorbei?

Geister der Vergangenheit: Eine Doppelseite aus „Der Unterwasserschweißer“.
Geister der Vergangenheit: Eine Doppelseite aus „Der Unterwasserschweißer“.

© Hinstorff

Da ist die ebenfalls dem Horror-Genre nahestehende Serie „Animal Man“, deren erster Sammelband kürzlich auf Deutsch erschien, weitaus effektiver angelegt. Im Zuge des 2011 erfolgten und „The New 52“ benannten Neustartes vieler DC-Serien mit wiederbelebt, erhält diese einst kuriose und der Heftreihe „Strange Adventures“ entstammende Figur in den 1990er Jahren mit Hilfe von Autor Grant Morrison höhere Comic-Weihen. Doch der Metaebenen-Achterbahnfahrt Morrisons wird nur eingangs höfliche Referenz erwiesen, wenn Lemire im ersten Heft seinen Protagonisten und dessen Alter Ego Buddy Baker persönlich interviewt. Ansonsten ist er mehr am Horror interessiert und, darin einem Stephen King nicht ganz unähnlich, wie dieser sich auf Familienstrukturen auswirkt. Das funktioniert auch außerordentlich gut. Der einer Wells'schen „Die Insel des Dr. Moreau“ oder eben einer Welt wie der von „Sweet Tooth“ entsprungene und ins Positiv gewendete Albtraum gebiert eine Machtfantasie über einen Menschen mit Fähigkeiten aus dem Tierreich, die durch die Ohnmacht gegenüber familiären Belangen ad absurdum geführt wird. Diese Art der Aufrechterhaltung von Spannungszuständen hat sich seit „Spider-Man“ erfolgreich bewährt. Aber Lemire gelingt Dank der unterkühlten Zeichenkunst von Travel Foreman und Dan Green mittels klarer Flächenseparierung in feinen, sparsamen Linien, unterstützt von Lovern Kindzierskis zurückgenommener Farbdramaturgie, außerdem die Erzeugung einer eisig-sterilen Stimmung. Diese befremdet den Leser bereits von Anfang an, und lange, bevor der eigentliche Horror losbricht.

Feines Gleichgewicht zwischen Mensch, Kunst und Kommerz

Die zuerst vorzüglich transgressive Bodyhorror-Geschichte mit psychedelischen Einsprengseln verkommt leider zum in der üblichen DC-Soße gereichten Buddy-Horror, wenn Lemire beginnt, die Hintergründe seiner Geschichte zu erhellen, so das bedrohte Gleichgewicht der Trinität aus dem Rot (verbindet Mensch mit Tier), dem Grün (Flora und Fauna) und der Fäule (der Weg alles Irdischen) und ihrer jeweiligen „Champions“. Neben Baker sind dies, natürlich dem Figurenfundus des Verlages entstammend, Animal Man-Kumpel Swamp Thing und dessen Nemesis Anton Arcane. So wird die in den ersten sechs Heften noch überzeugende Serie nicht nur schon bald zum Opfer eines Crossovers zwischen verlagseigenen Besitztümern, es erfolgt auch noch der übliche und systemimmanente Zeichnerwechsel. Der erste Sammelband ist jedoch uneingeschränkt empfehlenswert, insbesondere wegen des gelungenen sechsten Hefts, in dem Lemire unter der Assistenz von Gastzeichner John Paul Leon ein gelungenes Kabinettstück in die laufende Serie einflicht.

Breites Spektrum: Auch diese beiden von Lemire geschriebenen Reihen erscheinen jetzt auf Deutsch.
Breites Spektrum: Auch diese beiden von Lemire geschriebenen Reihen erscheinen jetzt auf Deutsch.

© Panini

Ironischerweise zeigt „Animal Man“ eine nicht intendierte Metaebene auf, welche, wie schon unter Morrisons Federführung, den Autor zum Thema macht. Diese zeigt das gegenwärtige Problem Lemires und veranschaulicht dessen alltäglichen Horror, dem jeder für die großen Verlagshäuser tätige Künstler zwangsläufig ausgesetzt ist - oder sich aussetzen lässt: Die fordistischen Produktionsverhältnisse töten langfristig die Kreativität der in den Prozess eingebundenen Kunstschaffenden und bedienen ausschließlich die Interessen einer in die Jahre gekommenen Fangemeinde. Langfristig sollte daher nicht nur das Gleichgewicht zwischen Rot, Grün und Fäule sondern auch jenes zwischen Mensch, Kunst und Kommerz eine Rekalibrierung erfahren.

An Lemires letzter Arbeit außerhalb der Superhelden-Tretmühle wird diese Notwendigkeit erkennbar: Das jüngst erschienene „The Underwater Welder“ weiß genauso wenig zu überzeugen wie sein Versuch, nebenher noch „Justice League Dark“ zu schreiben. Innovationen sucht man im „Underwater Welder“ meist vergeblich; einige der Seitenarrangements sehen arg nach dem DC-Kollegen und „Flash“-Autor Francis Manapul aus. Die sonst trockene und treffende Prägnanz Lemires säuft hier sprichwörtlich zu Gunsten oftmals belangloser und tränenseliger Weitschweifigkeit ab. Keine Spur mehr vom subtilen Sense of Wonder eines „Essex County“, welches am Ende des ersten Bandes die Frage suggerierte, wie eigentlich das Superheldenkostüm des kleinen Lester hoch oben in das Baumgeäst gelangen konnte.

Künstlerische Weitsicht, begrenzte Kapazitäten

„Justice League Dark“ wird übrigens vermutlich schon bald von dem neuen Co-Autor Ray Fawkes übernommen. Lemire wird Zeit brauchen, um, wie bereits von ihm angekündigt, demnächst „Green Arrow“ zu schreiben. Ähnliches widerfuhr bereits der Serie „Frankenstein, Agent Of S.H.A.D.E.“, die bis zu ihrer endgültigen Einstellung von Matt Kindt fortgeführt werden musste, da Lemire der Ruf von „Justice League Dark“ ereilte.
Nebst all dieser bereits zeitverzehrenden Aktivitäten liefert Jeff Lemire überdies zahlreiche Gastbeiträge für diverse Anthologien und Heftserien ab, die man einer von ihm selbst erstellten Liste entnehmen kann. Es fehlt hier jedoch die gelungene „Man-Thing“-Geschichte für die Marvel-Anthologie „Strange Tales II“ (2010/11). Und die angeblich nur im limitierten Sketchbook erhältlich aufgeführte Story „The Horseless Rider“ erschien auch in der wesentlich leichter zu beschaffenden Top Shelf-Geschichtensammlung „Awesome 2: Awesomer“ (2009).

Wenigstens „Sweet Tooth“ ist aber mit der vergangenen Monat veröffentlichten vierzigsten Ausgabe abgeschlossen. Was eigentlich als ein Zeichen für künstlerische Weitsicht im Hinblick auf kreativen Kapazitäten angesichts der nächsten und bereits für 2013 bei Vertigo angekündigten Science Fiction-Serie Lemires namens „Trillium“ zu werten wäre. Neil Gaiman hat derartige Vernunft bereits an Hand seiner „Sandman“-Reihe bewiesen, die 1996 konsequent mit der fünfundsiebzigsten Ausgabe eingestellt wurde.

Wer also mehr „Sweet Tooth“ will, muss sich entweder Emi Lenox' „Emitown“ Vol. 2 (2012) besorgen, in dem ein zweiseitiger Gus(t)-Auftritt von Lemire zu finden ist, oder auf die Profitorientierung von DC setzen, die bereits zur pränatalen Wiederbelebung längst totgeglaubter „Watchmen“-Charaktere führte. „The Sandman“ kommt nun nach einer bereits 2003 erfolgten Rückkehr doch noch einmal zu DC zurück, wie Neil Gaiman erst kürzlich verkündete. Die Erkenntnis „Niemals geht man so ganz“ gilt also weiterhin im amerikanischen Comic-Geschäft. Oder: „Jung gewohnt, alt getan“. Am 31. März 2013 feiert Jeff Lemire seinen siebenunddreißigsten Geburtstag.

Zu Jeff Lemires Blog geht es hier, weitere Tagesspiegel-Artikel über ihn finden sich hier.

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