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Der Feind in meinem Bett: Eine Szene aus „Infidel“.

© Splitter

Rassismus im Geisterhaus: Der wahre Horror der Gegenwart

Im Horror-Comic „Infidel“ wird eine junge Muslimin in New York von Geistern und Rassismus heimgesucht. Das ist gruselig - und gesellschaftlich relevant.

Seit Netflix Ende 2018 die erste Staffel der viel gelobten Serie „Spuk in Hill Haus“ zum Streamen online stellte, sind Geisterhäuser wieder deutlich gefragtere Immobilien als in den Jahren davor. Autor Pornsak Pichetshote und Zeichner Aaron Campbell beweisen in ihrem eigenständigen Comic-Einzelband „Infidel“ bei Splitter nun sogar, dass Rassismus und Geister unter demselben verspukten Dach eine starke und erschreckend zeitgemäße Kombination ergeben – und wo der wahre Horror unserer Gegenwart liegt.

Ihre Aktualisierung und Renovierung des Geisterhaus-Genres beginnt bereits mit der Auswahl ihrer Kulisse. In „Infidel“ (was übersetzt Ungläubig bedeutet) findet der Spuk in keiner düsteren alten Villa am Kleinstadtrand und in keinem unheimlichen viktorianischen Herrenhaus auf dem Land statt, sondern in einem mehrstöckigen Mietshaus in Manhattans Lower East Side – einem Haus, wie es von der Bauart, der Stimmung und den Menschen her in jeder anderen Stadt dieser Welt stehen könnte.

Geister, die nur sie sehen kann

In jenem New Yorker Mietshaus explodierten vor Kurzem allerdings die Lagerbestände eines Bombenbauers, wobei ein ganzes Stockwerk verwüstet wurde und mehrere Mieter den Tod fanden. Dennoch wird das Haus weiterhin bewohnt.

Etwa von der jungen Muslimin Aisha, ihrem Freund Tom und dessen kleiner Tochter Kris, die zu Toms Mutter in das berühmt-berüchtigte Mietshaus gezogen sind, um die Familienbande zu stärken. Hier wird Aisha von Albträumen gequält und von grausigen geisterhaften Erscheinen bedrängt, die nur sie sehen kann und die sie langsam aber sicher in den Wahnsinn treiben.

Kulturkonflikt: Eine weitere Seite aus „Infidel“.
Kulturkonflikt: Eine weitere Seite aus „Infidel“.

© Splitter

Doch nicht nur Geister umschwirren Aisha. Auch eine scheinbar ganz alltägliche und beiläufige Form von Rassismus spukt permanent durch Aishas Leben, ausgehend von ihrer Schwiegermutter in Spe, ihren Nachbarn, selbst von ihren Freunden und Bekannten. Ein gefundenes Fressen für all die bösen Geister im Gemäuer, die sich von Hass ernähren, und so dauert es bis zur nächsten Explosion aus negativer Energie, Gewalt und Leid nicht lange …

Vom Redakteur zum Autor

Der Rassismus, den der thailändisch-amerikanische Autor Pornsak Pichetshote darstellt, ist kein exklusives Gut von Hatern und Hetzern, ganz im Gegenteil. In „Infidel“ kommt der Rassismus von allen Seiten und braucht er keinen Extremismus als Brandbeschleuniger. Diese Alltäglichkeit und Allgegenwärtigkeit macht ihn umso erschreckender, um nicht zu sagen: gespenstischer.

In Pichetshotes Geschichte ist Fremdenfeindlichkeit in all ihren Formen und Nuancen daher ein mindestens gleichwertiger Schrecken neben den horrenden Geistern, die der Message dieser Comic-Story nie im Weg stehen.

Der Titel des besprochenen Buches.
Der Titel des besprochenen Buches.

© Splitter

Pichetshote weiß genau, was er tut – kein Wunder, er lernte sozusagen von den Besten. Als Redakteur arbeitete er jahrelang für das legendäre Vertigo-Imprint von DC Comics. Dabei nahm er als Editor Einfluss auf erwachsene Spitzentitel wie „Daytripper“, „The Unwritten“ oder „Sweet Tooth“, die ihrerseits stets Genre und Anspruch vereinten.

Da passt es, dass „Infidel“ im Original beim unabhängigen Verlag Image erschien, wo heute viele Comics im ‚Geist’ der alten Vertigo-Glanzzeiten herauskommen. Nach seiner Zeit bei Vertigo half Pichetshote selbst erst noch dabei, dass die Verwandlung von DCs Comic-Superheroes in TV-Serienhelden der Neuzeit glückte. Wenn er heute nicht selbst Comics wie „Infidel“ schreibt, verfasst er Drehbücher zu Fernsehserien wie „Marvel’s Cloak and Dagger“ oder „Leicht wie eine Feder“.

Horror für die Ära Trump

Zeichner Aaron Campbell, der „James Bond: Felix Leiter“, „The Shadow“ und zuletzt „Hellblazer“ visualisierte, fängt alle Monster und Schrecken in „Infidel“ souverän ein. Seine Geister, die er wie ektoplasmatische Collagen-Fremdkörper aus dem Rest des Artworks hervorstechen lässt, sind immens gelungen.

Aber Campbell bannt zugleich jede Emotion hervorragend aufs Papier mit seinem spröden, nichtsdestotrotz präzisen Strich, der an Veteran Denys Cowan (Zeichner des grenzerweiternden Klassikers „The Question“) oder den aktuellen Top-Künstler Andrea Sorrentino (Zeichner des aktuellen Horror-Krachers „Gideon Falls“) erinnert.

Kolorist José Villarrubia („Sweet Tooth“), der obendrein als Ideengeber, Geburtshelfer und Redakteur an „Infidel“ mitwirkte, unterstützt Campbells Zeichnungen mit passend dezenten, geisterhaft-blassen Farben.

Die Filmrechte sind schon verkauft

„Infidel“ ist topaktuell, erschütternd, packend und durch und durch menschlich, und zwar im Guten wie im Schlechten – ein exzellenter Horrorcomic für die komplizierte Welt nach Nine-Eleven und die Ära von Präsident Trump, in welcher der Rassismus neue Nahrung und Kraft fand. Einer der stärksten Genre-Comics des Jahres, der auf beeindruckende Weise zeigt, was selbst ein Subgenre wie die angestaubte Geisterhausgeschichte heute noch zu leisten vermag, wenn man bereit ist, das Risiko einzugehen, sie mit kontroversen Themen aufzuladen.

Die Filmrechte waren daher verkauft, noch bevor die ursprünglichen fünf US-Hefte komplett erschienen waren oder mittlerweile mit einem Vorwort von Tananarive Due, einem Nachwort von Jeff Lemire sowie einigen interessanten Extras zur Entstehung in einen Sammelband gepackt werden konnten.

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