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Mann ohne Eigenschaften. Die Figur Tintin ist eine ideale Projektionsfläche für den Leser. Den Helden verschlug es auf seinen Reisen mit seinem treuen Hund nach Südamerika, in den Kongo, nach China und sogar auf den Mond.

© picture-alliance/ dpa

Comic im Kino: Der Jäger des belgischen Schatzes

Die legendären Comicfiguren "Tim und Struppi" haben Steven Spielberg elektrisiert – am Donnerstag kommt sein Film ins Kino.

Rund drei Jahrzehnte lang hegte Steven Spielberg einen Lebenstraum: Als ein französischer Kritiker Anfang der achtziger Jahre Parallelen zwischen Indiana Jones und den Abenteuern von Tintin beobachtete, wurde Spielberg, so geht die Legende, auf die „Tim und Struppi“-Comics aufmerksam und sicherte sich sofort die Filmrechte. Nun wird, begleitet von großer Neugier, aber ebenso großem Argwohn der Fans, das Projekt endlich Leinwand-Wirklichkeit. Ab Donnerstag sollen die Abenteuer von Tim und seinem Foxterrier-Freund, in 3D, den neuesten Blockbuster generieren – zunächst in Europa, wo die Geschichte der Serie, entwickelt von dem belgischen Zeichner Hergé, millionenfach bekannt ist. Und ab Weihnachten auch in den USA.

Man ist längst daran gewöhnt, dass sich Hollywood Comic-Geschichten in zeitgemäßer Tricktechnik präsentiert. Aber die Superhelden sind das eigene kulturelle Erbe. Tintin alias Tim dagegen ist ein belgisches Nationalheiligtum und zugleich einer der größten Exportschlager des Königreiches. Über 230 Millionen Exemplare sind weltweit verkauft, die Abenteuer in mehr als 77 Sprachen übersetzt, und die Reporter-Ikone mit Haartolle und Stupsnase gehört zu den berühmtesten Comic-Charakteren – sogar mit eigenem Museum vor den Toren von Brüssel. Und das, obwohl Hergé (Georges Remi, 1907-1983) in 47 Jahren „nur“ 23 Bände zeichnete.

Begonnen hat alles 1929 in der Jugendbeilage einer katholischen Zeitung, Remi hatte in amerikanischen Zeitungen den Sprechblasen-Comic für sich entdeckt und entwickelte eine Geschichte um einen Reporter und seinen kleinen Hund, die nach Russland reisen. Die Leser waren begeistert, die Auflage der Zeitung versechsfachte sich donnerstags, wenn die Beilage erschien, und als zum Abschluss des Abenteuers ein Schauspieler in einen Zug gesetzt wurde, um die Heimkehr von Tintin zu inszenieren, geriet die Ankunft zur Triumphfahrt – Tausende von Anhängern warteten am Brüsseler Bahnhof. Damit war die europäische Bühne erobert: Parallel erschienen die Abenteuer in einem französischem Magazin, dann folgte der Nachdruck im großformatigen Album, eine heute noch gängige Veröffentlichungsform. Das erste Auftreten von Tintin markiert den Beginn einer franko-belgischen Tradition der Comics, die inzwischen dort sogar als Neunte Kunst gelten. Das alles wäre ohne Hergé nicht denkbar.

Dabei ist Tintin selbst ein Reporter ohne Redaktion, auch sieht man ihn nie beim Schreiben einer Reportage. Er ist zudem ein junger Mann ohne Eigenschaften, eine Projektionsfläche für den Leser. So wurde das Reisen – von Abenteuer zu Abenteuer – zum Markenzeichen der Serie: Den Helden und seinen treuen Hund verschlug es nach Nord- und Südamerika, in den Kongo, damals noch unter belgischer Kolonialherrschaft, nach China, oder, als der Krieg begann, in fiktive Königreiche wie Syldavien.

Die frühen Jahre des Zeichners sind nicht unumstritten, im Frühwerk sind zahlreiche nationale Stereotypen und Vorurteile zu erkennen. Auch die nun verfilmten Bände entbehren nicht einer delikaten Randnotiz. Zwar haben hier berühmte Nebenfiguren wie Kapitän Haddock und Professor Bienlein ihren ersten Auftritt, aber die Strips sind zwischen 1940 und 1943 in der Zeitung „Le Soir“ erschienen, zur Zeit der deutschen Besatzung. Hergé erzählte seinen Lesern ganz unpolitisch von Piratenschätzen auf dem Grunde des Meeres und von Schmugglern, aber die Zeitung wurde als Propagandainstrument der Besatzer eingesetzt. Wegen dieser Arbeiten wurde Hergé später als mutmaßlicher Kollaborateur mit einem Berufsverbot belegt und durfte erst nach der Fürsprache eines Verlegers, der in der Résistance kämpfte, weiter arbeiten und neue Meisterwerke erschaffen – etwa eine Geschichte über Tintin auf dem Mond, zehn Jahre, bevor die Amerikaner dort landeten. Hergé wurde zum Klassiker – und sogar von Andy Warhol verewigt.

Das Geheimnis seiner Größe liegt in seinem unverwechselbaren Stil, der „ligne claire“. Dabei wird der Raum mit einfachem geometrischen Strich und kräftigen Farben entworfen, und davor agieren die stilisierten Figuren. Diese „klare Linie“ wurde zum Vorbild für viele Comic-Künstler bis heute.

Gerade also die Diskrepanz zwischen Hergés sorgfältig ausgemalter zweidimensionaler Welt und der zeitgemäß animierten Tricktechnik nun macht auf den Film neugierig – zumal Steven Spielberg bekannt dafür ist, den Geist des Originals in seinen Filmen zu erhalten. Er benutzte die Performance-Capture-Tricktechnik, die auch schon bei James Camerons „Avatar“ verwendet wurde; dabei werden Bewegungen und Mimik realer Schauspieler digital aufgezeichnet und dann in den visuellen Entwürfen des Animationsfilms umgesetzt.

So ist die historische Figur Tintin im 21. Jahrhundert angekommen – und wenn „Das Geheimnis der Einhorn“ ein Erfolg wird, woran niemand zweifelt, stehen Fortsetzungen, die erste unter der Regie des jetzigen Produzenten Peter Jackson, ins Haus. Das kleine Land Belgien dürfte es mit Stolz erfüllen, dass sich derlei Weltberühmtheiten des Kinos um Tintin kümmern. Namen minderer Bedeutung allerdings hätten auch nicht zu einer Weltberühmtheit wie Tim gepasst.

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