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Offen für Assoziationen. Ein Bild aus dem besprochenen Band.

© Edition Clandestin

„Ungewisses Manifest“ von Frédéric Pajak: Schatten der Geschichte

Politik, Persönliches und Walter Benjamins Biografie: Frédéric Pajaks „Ungewisses Manifest“ bietet dem Leser viele Projektionsflächen zwischen Texten und Bildern.

„Ein Wort löst das vorherige ab, ein Bild löscht ein anderes aus, ein Gedanke hört zu denken auf.“ Diese Worte beschreiben äußerst treffend, wie Frédéric Pajak Text und Zeichnungen kombiniert. Sein „Ungewisses Manifest 1“ ist jetzt in deutscher Übersetzung in der Edition Clandestin erschienen, weitere Teile sollen folgen. Es konfrontiert den Leser mit einer Folge von gleichgroßen Tuschezeichnungen, die jeweils zwei Drittel einer Seite einnehmen. Bis auf wenige Ausnahmen findet sich auf jeder Seite eine Zeichnung, die im unteren Drittel durch Fließtext ergänzt wird. Die Synthese von Bild und Text ist jedoch nicht unmittelbar evident. Sie muss vielmehr vom Leser selbst hergestellt werden, indem dieser die Leerstellen, die sich in den Zeichnungen, zwischen den Zeichnungen und zwischen Bild und Text auftun, mit eigenen Assoziationen füllt.

Benjamin im Blick. Der Philosoph spielt in Pajaks „Ungewissem Manifest“ eine zentrale Rolle.
Benjamin im Blick. Der Philosoph spielt in Pajaks „Ungewissem Manifest“ eine zentrale Rolle.

© Edition Clandestin

Die Zeichnungen des französisch-schweizerischen Schriftstellers und Zeichners werden dominiert von Schatten. Und es sind gerade diese Schatten, die andeuten, aber nie alles zeigen, die die Zeichnungen zu Projektionsflächen für die Gedanken des Lesers machen. Auch die Gesichter der Menschen sind meistens von Schatten bedeckt. Eine Identifikationsfigur findet man nicht, man bleibt als Betrachter eher distanziert. Das gilt auch für den Text, der sich in acht Kapitel unterteilt. Hier gehen essayistische Gedanken zu Geschichte und Politik, vor allem zu den Jahren vor Beginn des zweiten Weltkriegs, persönliche Erinnerungen des Autors und biografische Erzählungen zu Walter Benjamin ineinander über.

Leerstellen, die der Leser zu füllen hat

Aber nicht nur die Biografie Benjamins, auch seine Gedanken und Ideen spielen in Pajaks „Ungewissem Manifest“ eine zentrale Rolle. So wirken nicht nur manche der Personen in den Zeichnungen wie Benjamins „Engel der Geschichte“, auch der Text wirft in seinen Reflexionen immer wieder einen Blick zurück auf Vergangenes. Genau wie der „Engel der Geschichte“ bei Benjamin bewegt der Autor sich zwar in Richtung Zukunft, er wendet ihr jedoch den Rücken zu und hat den Blick fest auf die Vergangenheit gerichtet. Und vielleicht macht genau diese Blickrichtung die Ungewissheit aus. Denn wie soll man mit Gewissheit in die Zukunft gehen, wenn man das, was da kommen kann und soll, nicht im Blick hat?

Fortsetzung soll folgen: Das Cover des besprochenen Bandes-
Fortsetzung soll folgen: Das Cover des besprochenen Bandes-

© Edition Clandestin

Ein Manifest im eigentlichen Sinne ist Pajaks Werk also nicht, aber das ist vielleicht nur konsequent, denn auch seine Art, Zeichnungen und Text zu kombinieren, entzieht sich klassischen Gattungsbeschreibungen. Sein „Ungewisses Manifest“ ist kein illustrierter Essay und auch kein Comic oder gar eine Graphic Novel. Für Illustrationen beziehen sich die Zeichnungen zu wenig auf den auf der gleichen Seite platzierten Text, aber auch eine comicartige, sequenzielle Rezeption erscheint oft nicht sinnvoll. Wort und Bild lösen sich gegenseitig ab, an manchen Stellen löschen sie sich vielleicht sogar gegenseitig aus. Auf diese Weise entstehen die zahlreichen Leerstellen, die der Leser zu füllen hat.

Frédéric Pajak: Ungewisses Manifest. Aus dem Französischen von Ruth Gantert. Edition Clandestin, 192, 35 Euro

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