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Allgegenwärtige Geschichte: Eine Seite aus dem Buch.

© Illustration: Glidden/Panini

Interview: „Wahrheit ist immer subjektiv“

Die US-Comicautorin Sarah Glidden hat mit „Israel verstehen – in 60 Tagen oder weniger“ eine sensible Annäherung an ein kontroverses Thema veröffentlicht. Im Tagesspiegel-Interview erklärt sie, was sie an politischen Themen reizt.

Sarah Gliddens Buch „How to understand Israel in 60 days or less“ ist einer der Überraschungserfolge der nordamerikanischen Comicszene, in Kürze erscheint in den USA die zweite Auflage. Das Buch der in New York lebenden jüdischen Zeichnerin vermittelt einen wertvollen Einblick in Geschichte und Gegenwart Israels, wie Tagesspiegel Rezensent Thomas Greven in seiner Besprechung urteilte. Jetzt veröffentlichte der Panini-Verlag die deutsche Übersetzung. Lars von Törne traf sie kürzlich auf dem Toronto Comic Arts Festival zum Interview.

Tagesspiegel: Ihre Comics spielen in Israel, Irak oder Syrien. Was zieht Sie eigentlich immer an die Konfliktherde der Welt?

Sarah Glidden: In all diesen Konfliktzonen im Mittleren Osten spielen die USA eine große Rolle. Aber bei uns wird darüber kaum je geredet, zumindest nicht sehr differenziert. In den USA herrscht eine Tendenz vor, die Realität zu simplifizieren: „Diese verrückten Israelis bzw. Palästinenser“, oder: „Diese verrückten Iraker“. Aber fast nie wird darüber gesprochen, dass dies auch unsere Konflikte sind, an denen wir beteiligt sind.

Und das wollen Sie mit Ihrem Buch ändern?

Als Amerikanern interessiere ich mich sehr dafür, wie unsere Außenpolitik die Lage in diesen Ländern beeinflusst. Irgendwann werde ich sicher auch mal etwas zu einem Thema in den USA machen, aber im Moment finde ich es einfach faszinierender, für meine Arbeit zu reisen und dank meiner Comics andere Kulturen kennenzulernen – und zu merken, wie vielschichtig und widersprüchlich sie sind. Und Comics können diesen komplizierten Themen ein menschliches Gesicht geben. Ich hoffe, das die Leser meine Comics als Einstieg in das Thema nehmen. So wie in meinem Fall die Lektüre von „Persepolis“ meinen Blick auf den Iran für immer verändert hat und mich motiviert hat, mich stärker mit dem Land zu beschäftigen.

Sie kommen ja aus der Independent-Szene. Wie kam es dazu, dass Ihr Israel-Buch ausgerechnet beim Vertigo-Verlag erschienen ist, der zum DC-Konzern gehört, bei dem sonst eher Figuren wie Superman und Batman zu Hause sind?

Es begann als selbstgemachte Minicomics. Am Anfang war der Wunsch, diese Reise nach Israel zu unternehmen und einen Comic darüber zu machen. Als ich zurückkam, zeichnete ich die ersten kurzen Comics über einzelne Erlebnisse. Ich hatte damals noch kein ganzes Buch im Sinn. Das waren lediglich einzelnen Kapitel, die ich mit dem Fotokopierer vervielfältigt und auf Comicbörsen verteilt habe. Ich dachte nicht, dass sich wirklich ein großes Publikum für meine Reise interessiert – entweder weil die Leute die Nase voll von Berichten über die Israel-Palästina-Problematik haben, oder weil sie ein ganzes Buch darüber für zu informationslastig finden.

Stabiler Gegenpol: Die Autorin und ihre Freundin Melissa auf Entdeckungsreise.
Stabiler Gegenpol: Die Autorin und ihre Freundin Melissa auf Entdeckungsreise.

© Illustration: Glidden/Panini

Und dann?

Die ersten Episoden gefielen vielen Leuten. Ich hatte zwei Kapitel fertig, die ich als Kopien auf dem Mocca-Comicfestival in New York verkaufte. Da sprach mich jemand an, nahm eine Kopie und sprach mit mir drüber. Er hatte einen Anstecker des DC-Verlages an seiner Jacke. Also dachte ich, das ist ein Versehen, dass er meinen Comic kaufte. Ich war sicher, dass er ihn für Müll halten und wegwerfen würde. Aber zwei Tage später meldete er sich bei mir und fragte, ob ich ein ganzes Buch zum Thema bei Vertigo veröffentlichen wollte. Also sagte ich ja, unterzeichnete den Vertrag, und konnte plötzlich zum ersten Mal all meine Zeit dem Comic widmen.

Faszinierend an Ihrem Buch ist besonders, wie Sie faktische Beobachtungen und sachliche Schilderungen mit sehr persönlichen Gedanken und Tagträumen mischen und sich sehr reflektiert mit Ihrer eigenen Wahrnehmung auseinandersetzen. War das Buch von Anfang an so angelegt?

Ich wünschte, ich könnte sagen, das war ein Konzept von Anfang an, dass es so subjektiv sein sollte, dass es ein Buch darüber sein sollte, wie wir uns Sachen zurechtlegen und die Welt wahrnehmen. Aber so war es nicht.

Sondern?

Ich wusste am Anfang gar nicht, wie man überhaupt ein Buch schreibt. Mir waren zu Beginn nur zwei Sachen wichtig: Ich wollte ehrlich sein, und ich wollte klar machen, dass dies nur meine Erfahrungen sind. Erst während ich das Buch schrieb, begann ich dann systematischer darüber nachzudenken, wie ich meine Gedanken als Comic umsetzen kann. Dabei war mir wichtig, dass bei allen Begegnungen mit anderen Menschen und ihren Erzählungen  über bestimmte Aspekte der israelischen Geschichte immer deutlich wird, dass ich es bin, die die Geschichten hört und auf bestimmte Weise verarbeitet. Deswegen habe ich den subjektiven Blickwinkel so betont, auch um deutlich zu machen, dass man nicht alles, was man hört, für bare Münze nehmen darf, sondern dass es eben immer auch subjektive Wahrheiten sind. Gerade bei so Themen wie Israel gibt es einfach keine neutralen Informationen.

Trotzdem versuchen Sie ja immer wieder, den Fakten auf den Grund zu gehen, indem sie verschiedene Sichtweisen miteinander vergleichen und versuchen, der Realität so nahe wie möglich zu kommen – ein wenig wie ein Journalist, der immer mehrere Quellen benutzt.

Comic-Journalismus: Eine Seite aus Sarah Gliddens aktuellem Projekt „The Waiting Room“.
Comic-Journalismus: Eine Seite aus Sarah Gliddens aktuellem Projekt „The Waiting Room“.

© Illustration: Glidden

Ja, so denke ich eben. Mein aktuelles Projekt „The Waiting Room“ zum Beispiel ist eine Reportage über irakische Flüchtlinge in Syrien, wie sie auch ein Journalist gemacht haben könnte, ebenso ein anderes Projekt, bei dem ich mit einigen Journalisten kooperiere. Allerdings ist mir wichtig, dass mein Israel-Buch keine journalistische Annäherung an das Thema ist, sondern persönliche Erinnerungen.

Sie sind in vielen Szene bemerkenswert offenherzig, was eigene Fehlurteile, Schwächen, Gefühle und unangenehme Momente angeht. War es schwierig, sich vor einem großen Publikum so weit zu öffnen?

Ich wollte so ehrlich wie möglich sein. Aber während des Schreibens war mir ehrlich gesagt nicht klar, wie viel ich von mir preisgeben würde. Vergessen Sie nicht: Es ist mein erstes Buch! Ich habe nicht die ganze Zeit daran gedacht, dass ich das jetzt mit vielen Leuten teile. Ich habe eigentlich immer nur gedacht: So war das, und so habe ich mich in dem Moment gefühlt. Das war auch gut so – sonst hätte ich mich vielleicht viel öfter gefragt, was die Leute jetzt von mir halten oder ob sie mich zu emotional finden, und das hätte meine Erzählung verändert und weniger ehrlich gemacht. Erst als das Buch fertig und in den Buchläden war, dachte ich plötzlich: Oh mein Gott, das lesen jetzt die Menschen und sie werden sehr persönliche Sachen über mich erfahren.

Ihr Buch lebt von seinen Dialogen. Haben Sie während Ihrer Reise ein Tonband dabeigehabt, oder wie haben Sie die Dialoge so authentisch hinbekommen?

Am Anfang hatte ich ein Tonband dabei und habe alles aufgenommen, was bei Vorträgen gesprochen wurde. Aber dann ging das Gerät gleich am Ende des ersten Tages kaputt. Also habe ich bei jeder Veranstaltung und nach jedem Gespräch wie wild Notizen gemacht. Ich habe bei dieser Reise gelernt, sehr schnell zu schreiben! Die Dialoge habe ich aber meistens hinterher nachempfunden, basierend auf meinen Notizen, in denen meist nur die Themen und ein paar Details standen. Für meine aktuellen und künftigen Arbeiten benutze ich aber Aufnahmegeräte, um alle Dialoge ganz exakt so festzuhalten, wie sie geführt werden.

Bemerkenswert ist an Ihrem Werk auch die dichte Komposition, bei der sich viele kleine Ereignisse manchmal fast zu perfekt zu einem großen Ganzen zusammenfügen. Wieviel künstlerischen Freiheit haben Sie sich beim Erzählen erlaubt?

Homo Politicus: Sarah Glidden beim Interview in Toronto.
Homo Politicus: Sarah Glidden beim Interview in Toronto.

© Lars von Törne

Alles, was in dem Buch passiert, ist wirklich passiert. Die einzige Ausnahme ist die Schlussszene nach der Abreise aus Irsrael, die sich in Wirklichkeit erst später abgespielt hat. Außerdem habe ich einige kleine Szenen teilweise nachträglich hinzugefügt, um einen bestimmten Punkt zu illustrieren. Zum Beispiel gibt es eine Szene, in der etwas über die israelische Geschichte erzählt wird und ich dann im Hintergrund ein Kind mit Kriegsspielzeug spielen lassen – das hat sich nicht wirklich zeitgleich so zugetragen sondern ich habe das als Hilfsmittel benutzt, meine Erlebnisse um eine weitere Schicht zu ergänzen und zusätzlich zu illustrieren. Da habe ich mir ein paar Freiheiten erlaubt, ansonsten habe ich mich aber streng an die wirklichen Ereignisse gehalten. Meine größte Herausforderung war die Auswahl der Szenen – bei knapp 200 Seiten musste ich enorm viele Dinge einfach weglassen.

Eine wichtige Rolle in der Erzählung spielt Ihre Freundin Melissa, mit der sie sich während der Reise austauschen – Sie beide zusammen sind einfach eine perfekte Kombination, auch um verschiedene Sichtweisen auf die Situation in Israel zu reflektieren...

Ja, und auch das hat sich wirklich alles so abgespielt, wie ich es beschreibe! Sie war der stabile Gegenpol zu meiner Unsicherheit.

Auf der Suche: Sarah Gliddens Selbstporträt auf dem Cover des Buches.
Auf der Suche: Sarah Gliddens Selbstporträt auf dem Cover des Buches.

© Panini

Sarah Glidden: Israel verstehen – in 60 Tagen oder weniger, Panini, 212 Seiten, 24,95 Euro, zur Website des Verlages geht es hier. Eine Leseprobe gibt es hier.

Veranstaltungshinweis: Sarah Glidden besucht vom 23.-26. Juni 2011 als Gast des Panini-Verlags das Münchner Comic-Festival, wo sie ihr Buch signiert und einige Vorträge im Jüdischen Museum hält. Mehr unter www.comicfestival-muenchen.de.

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