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Augen zu und durch. Das Cover des Comics zur Affäre.

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Wirtschaftskrimi: Was sind schon fünf Milliarden?

Jérôme Kerviel verzockte Unsummen und ruinierte fast eine Bank. Jetzt steht der Betrüger in Paris vor Gericht - ein Comic hat den Franzosen zum Helden gemacht.

Im Juli 2007, als die Welt von einer Krise noch nichts wissen will, notiert der junge Pariser Bankangestellte Jérôme Kerviel folgende Sätze in sein Tagebuch: „Ich muss mir ein verdammtes Syndrom eingefangen haben. Jedes Mal, wenn ich im Laden etwas kaufe, habe ich das Bedürfnis, es sofort wieder zu verkaufen. Beim Bäcker habe ich mich heute dabei ertappt, wie ich mein Baguette an den Kunden hinter mir weiterverkaufte. Mein System nimmt beunruhigende Dimensionen an.“

Das „System“, das Kerviel beschreibt und für das ihm jetzt in Frankreich der Prozess gemacht wird (mehr dazu hier), bereitet ihm zu diesem Zeitpunkt regelmäßig schlaflose Nächte. Zwei Jahre zuvor ist der ehrgeizige junge Mann zum Finanzhändler der Société Générale (SG) befördert worden, der zehntgrößten Bank Frankreichs. Seitdem handelt er. Fieberhaft. Mit Geld, in seinen diversen Erscheinungsformen. Im Prinzip tut Kerviel, was alle seine Kollegen tun – bloß bewegt er, der im Handelsraum der SG als kleines Licht gilt, im Stillen mehr Geld als alle Kollegen zusammen. Erheblich mehr Geld. Es ist weitaus mehr, als seine Bank überhaupt besitzt.

Kerviel tut es heimlich. Weil die Summen, mit denen er im Alleingang spekuliert, sämtliche Kontrollinstanzen der SG auf den Plan rufen müssten, verschleiert er seine Transaktionen, gleicht sie mit fiktiven Gegentransaktionen aus, konstruiert Nullsummen. Wenn die Kontrollabteilung Fragen stellt, belegt Kerviel die erfundenen Geldbewegungen mit gefälschten Dokumenten. Morgens ist er der Erste im Büro, abends geht er als Letzter, auch Urlaub nimmt er nicht, aus Angst, jemand könne Lücken in seinem System entdecken. Im Juli 2007 ist Kerviel dieses zwanghafte Nullsummenspiel so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, dass er es nicht einmal beim Bäcker ablegen kann.

Eine Figur von Balzac’schem Format

Auf dem Gipfel seiner einsamen Karriere spekuliert Kerviel mit Handelspositionen im Wert von 50 Milliarden Euro – einer Summe, die der Gesamtwirtschaftsleistung der Slowakei entspricht. „Mit einem einfachen Computer“, schreibt er am 7. Januar 2008, „werde ich morgen das Äquivalent dessen einsetzen, was Millionen von Slowaken in einem Jahr produzieren. Entweder bin ich ein verdammter Glückspilz, oder die Slowakei ist von unverbesserlichen Nichtstuern bevölkert.“

Aufschwung aus der Tube. Szene aus "Le Journal de Jérôme Kerviel". 
Aufschwung aus der Tube. Szene aus "Le Journal de Jérôme Kerviel". 

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Kerviels Tagebucheinträge, die im Pariser Verlag Thomas Éditions veröffentlicht worden sind, lesen sich wie eine fesselnde, wenn auch nicht hundertprozentig glaubhafte Wirtschaftsfarce – und genau das sind sie auch. Zwei Franzosen, der Schriftsteller Lorentz und der Comiczeichner Nicolas Million, haben die illustrierte Erzählung verfasst. Alle Zahlen stimmen natürlich, und abgesehen von Erfindungen wie der Bäckereiepisode und den ausgedachten Tagebucheinträgen hält sich das Buch an Kerviels reale Biografie. Als „Figur von Balzac’schem Format“ bezeichnen die Autoren ihren Helden – weil er den unbedingten Willen zum sozialen Aufstieg verkörpere. „Ich spiele mit dem Geld der anderen“, lassen sie Kerviel notieren. „Wie sollte ich mit meinem eigenen spielen? Ich bin arm geboren, habe keine Ressourcen. Ich wurde von einer Elite auserwählt, die in mir den brillanten Zögling sah.“

Kerviels Lebensgeschichte, das erwies sich bald, traf einen Nerv. Nicht alle wollten offenbar in ihm den „Fälscher, Terroristen und Betrüger“ sehen, als den ihn Bankchef Daniel Bouton bezeichnete. Globalisierungskritische Web-Foren verklärten den Banker zum Guerillakämpfer gegen das Großkapital, junge Französinnen ließen sich T-Shirts mit dem Slogan „I had sex with Jérôme Kerviel“ bedrucken, der Regisseur Antoine de Caunes stellte einen Kerviel-Film in Aussicht.

Um persönliche Bereicherung sei es ihm nie gegangen

Der Held all dieser Fantasien hüllte sich derweil in Schweigen. Im einzigen Interview seit seiner Verhaftung gab Kerviel lediglich zu Protokoll, man verliere in seinem Job „das Gefühl für Summen“, man lasse sich „davontragen“. Um persönliche Bereicherung, betonte er, sei es ihm nie gegangen: „Das Ziel war, Geld für die Bank zu verdienen.“ Alle weiteren Erklärungen wolle er sich „für den Richter aufheben“. Seit Anfang Dezember ist das Ermittlungsverfahren abgeschlossen, nun wartet Kerviel auf seinen Prozess.

Wenig ist bekannt über diesen Mann, den Kollegen als Eigenbrötler beschreiben. Eine Nachbarin aus dem Pariser Vorort Neuilly erzählte der Presse, Kerviel habe, wenn sie ihren Hund spazieren führte, stets gegrüßt, aber mit gesenktem Kopf, als meine er den Hund.

Geboren wurde Kerviel 1977 im bretonischen Küstenstädtchen Pont-l’Abbé, die Mutter ist Friseurin, der Vater Berufsschullehrer. Während die meisten Händler der SG ihr Handwerk an Pariser Elitehochschulen erlernen, studiert Kerviel an Provinzunis, sein Diplom befähigt ihn zum „Management von Finanzoperationen im Back- und Middle-Office“, den hinteren Handelsräumen der Banken, in denen Geldgeschäfte nur abgewickelt und kontrolliert werden. Das Studium sei „keine Ausbildung zum Händler“, betonte eine Dozentin aus Lyon. „Wir suchen keine Leute mit Geschmack für Glamour, sondern ruhige, seriöse Menschen.“ Kerviel sei „ein Student wie jeder andere“ gewesen, fügte sie hinzu: „Ernst, kein Risikotyp.“

Kerviel will nicht zum „Sündenbock“ der Finanzkrise werden

Bei der SG steigt Kerviel im August 2000 in der Kontrollabteilung ein – was es ihm später er leichtert, die Schutzmechanismen der Bank zu umgehen. Erst 2005 wird er zum Händler befördert. Kerviel hat die Seiten gewechselt, doch im Front-Office belächelt man ihn als Emporkömmling. Er verdient 48 000 Euro im Jahr, Ende 2006 kommt ein Bonus von 58 000 Euro hinzu – lächerliche Beträge für seine Kollegen. Als „Handlanger“ bezeichnen sie ihn noch, als bereits ganz Frankreich seinen Namen kennt.

Morgens als Erster im Büro, abends als Letzter in den Feierabend: Kerviel als Comic-Figur.
Morgens als Erster im Büro, abends als Letzter in den Feierabend: Kerviel als Comic-Figur.

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Am 24. Januar 2008 gibt Bankchef Daniel Bouton eine Menge Zahlen bekannt. Dass die SG Verluste von 2,6 Milliarden Euro infolge der US-Immobilienkrise einräumt, verursacht wenig Aufsehen – denn im gleichen Atemzug wirft Bouton eine weit höhere Zahl in den Raum: Ein Händler habe die Bank um 4,82 Milliarden Euro geprellt. Damit hatte Kerviel selbst Nick Leeson in den Schatten gestellt, den bis dato berühmtesten Finanzhasardeur, der 1995 rund 1,4 Milliarden Euro in den Sand gesetzt und Großbritanniens älteste Investmentbank ruiniert hatte.

Kerviel werde seinen Teil der Verantwortung tragen, erklären heute seine Anwälte – aber er werde sich nicht zum „Sündenbock“ der Finanzkrise machen lassen. Gut 90-mal hatten bei den fragwürdigen Trans aktionen des Händlers die bankinternen Warnsysteme Alarm geschlagen, auch Handelspartner und Börsenaufsichten meldeten immer wieder Skepsis an. Kerviels Vorgesetzte aber schritten nicht ein – weil sie seine Methoden billigten, solange sie Gewinne brachten?

Kerviel, der Meister aller Geldverbrenner?

Bis zum 31. Dezember 2007 hatte Kerviel im Stillen einen Profit von satten 1,4 Milliarden Euro erzielt. Erst im neuen Jahr stürzten seine Positionen ins Bodenlose. Als die Bank Mitte Januar einschritt, hatte Kerviel abzüglich seiner Gewinne 1,3 Milliarden verbrannt. Erst durch die überstürzte Veräußerung des kompletten 50-Milliarden-Euro-Pakets, das die Bank in drei Tagen verscherbelte, während weltweit die Kurse stürzten, stieg der Gesamtverlust auf 4,82 Milliarden Euro. Eine Gruppe amerikanischer Aktionäre hat deshalb Klage gegen die französische Bank erhoben. Ihr Vorwurf: Die SG habe die Affäre Kerviel benutzt, um massive Fehler bei der Bewältigung der US-Immobilienkrise zu verschleiern.

Auch ohne solche Verdachtsmomente erscheint die Affäre Kerviel heute in anderem Licht. Kerviel, der Meister aller Geldverbrenner? Längst hat der US-Börsenguru Bernard Madoff den Rekord gebrochen, der seine Anleger um mindestens zehnmal so viel Geld prellte wie Kerviel. Sogar diese 50 Milliarden wirken inzwischen geradezu überschaubar, angesichts immer neuer, immer höherer Verlustmeldungen und Hilfsforderungen. Der Internationale Währungsfonds geht inzwischen davon aus, dass die Finanzbranche gut eine Billion Euro abschreiben muss – Tendenz steigend, Folgen für die Realwirtschaft nicht mitgerechnet. Was sind da fünf Milliarden?

Im Gedächtnis blieb Kerviel als der Mann, der mit unverantwortlichen Spekulationen einen Riesenhaufen Geld vernichtete. Bloß stellte sich wenig später heraus, dass eine Menge anderer Leute mit noch viel unverantwortlicheren Geschäften weit höhere Summen verpulvert hatten – ohne sich auch nur ansatzweise strafbar zu machen.

Angeklagt ist Kerviel wegen Fälschung und Vertrauensbruchs. Was auch sonst hätte die SG ihrem Händler zur Last legen sollen? Maßlose Profitgier? Mut willige Risikoblindheit? Genau das, so die Lehre des Jahres 2008, waren die Malaisen des gesamten Finanzsystems. Sind wir nicht alle ein bisschen Kerviel?
Lorentz / Nicolas Million: Le journal de Jérôme Kerviel, 40 Seiten, Thomas Èditions, 14,90 Euro. Mehr zum Buch auf der Website des Verlages.

(Aktualisierte Fassung eines Artikels aus dem gedruckten Tagesspiegel vom 21.12.2008)

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