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65 Jahre Tagesspiegel: Zeichnen der Zeit

Von Seyfried bis Flix: Comics wird im Tagesspiegel ein besonderer Platz eingeräumt – mit internationaler Resonanz.

Ein wildgewordener, gigantischer Pandabär zieht eine Schneise der Zerstörung durch West-Berlin; das Volk umtanzt ein Götzenbild in Form einer D-Mark- Münze; klotzige Betonneubauten prägen das Stadtbild; bis an die Zähne bewaffnete Polizisten schneiden Kreuzberg von der Außenwelt ab; und die High Society der Mauerstadt blickt vom Panoramabalkon amüsiert auf das schräge Treiben am Boden. Auf diesem Comic-Wimmelbild hielt der Zeichner Gerhard Seyfried vor 23 Jahren seine Impressionen von den Feierlichkeiten zu Berlins 750. Stadtjubiläum fest. Die liebevoll-spöttische Zeichnung schmückte eine ganze Seite im Tagesspiegel – eines von vielen Beispielen dafür, welche Bedeutung die Zeitung, die jetzt ihr 65. Jubiläum begeht, dem Comic beimisst, damals wie heute.

Zuletzt hat sich der Tagesspiegel vor allem einen Namen als Forum für anspruchsvolle Strips einer neuen Comicgeneration gemacht. Statt Seyfried oder dem später jahrelang in der Zeitung vertretenen Zeichner Bernd Pohlenz sind heute Flix, Mawil, Arne Bellstorf und Tim Dinter regelmäßig mit exklusiven Arbeiten im Blatt zu sehen. Die vier Zeichner, allesamt in den Dreißigern, präsentieren seit gut vier Jahren abwechselnd neue Arbeiten auf der letzten Seite der Tagesspiegel-Sonntagsbeilage – ein inzwischen zur Institution gewordenes Format, das die Fachzeitschrift „Comixene“ als „das derzeit wahrscheinlich ambitionierteste Comicprojekt einer Zeitung“ lobte. Deren Chefredakteur Martin Jurgeit schwärmt für die Tagesspiegel-Reihe als „eine der ganz großen Entdeckungen der letzten Zeit“, die deutlich mache, „wie produktiv es sein kann, wenn Künstler sich auf ein – nicht selbst gewähltes – formales Korsett einlassen müssen“.

„,Spiegel Online’ bekommt ernsthafte Konkurrenz“

Parallel zur Präsentation exklusiver Comics aus deutschen Ateliers hat der Tagesspiegel in den vergangenen Jahren auch seine redaktionelle Würdigung des Mediums kräftig ausgebaut. So gibt es seit bald zwei Jahren im Online-Angebot der Zeitung die Rubrik www.tagesspiegel.de/comics, auf der täglich aktuelle Berichte, Rezensionen, Interviews und Analysen zu finden sind. „In Sachen Comics bekommt ,Spiegel Online’ nun ernsthafte Konkurrenz“, urteilte kurz nach dem Start der Website das Online-Fachmagazin „Graphic-Novel.info“. Das Tagesspiegel-Projekt sei „beeindruckend“.

Nicht zuletzt wegen des großen Zuspruchs der Online-Comicseiten bei den Lesern gibt es seit einem Jahr nun auch im Feuilleton des gedruckten Tagesspiegels eine Comicseite, die im Schnitt alle sechs bis acht Wochen erscheint und die zunehmende Vielfalt sowie das stetig wachsende künstlerische und erzählerische Niveau der aktuellen Comiclandschaft zu reflektieren sucht.

Das Thema Comics hat inzwischen auch jenseits der Tagesspiegel-Leserschaft große Resonanz erzielt. So war bis zu diesem Sommer an der Berliner Mauergedenkstätte an der Bernauer Straße eine Plakatausstellung zu sehen, auf der die Tagesspiegel-Strips des Zeichners Flix zum Thema deutsche Teilung und Wiedervereinigung wiedergegeben waren. Die Reihe mit dem Titel „Da war mal was …“ ist als Buch ein Bestseller, die aus den Comics und pädagogischem Begleitmaterial bestehende Plakatausstellung, die Flix mit der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur erstellt hat, wandert mit großem Erfolg durch deutsche Schulen.

Eine weitere Zusammenstellung unter anderem von Tagesspiegel-Comics bereist seit kurzem nicht nur Deutschland, sondern die Welt – als Kulturbotschafter der Bundesrepublik. Das Goethe-Institut hat eine Wanderausstellung samt opulent illustriertem Katalog unter dem Titel „Comics, Manga & Co. – die neue deutsche Comic-Kultur“ zusammengestellt, in der gleich drei Tagesspiegel-Zeichner mit ihren Werken prominent vertreten sind: Flix, Arne Bellstorf und Mawil. „Deutsche Comics werden aufgrund ihrer Vielfalt und individuellen Bild- und Erzählsprache mit steigendem Interesse rezipiert und finden wachsende Anerkennung“, schreiben Eva Maria Schmitt vom Goethe-Institut und Ausstellungskurator Matthias Schneider im Vorwort des Kataloges. Kürzlich war die Schau in Finnland zu sehen, Kanada und andere Länder sind die nächsten Stationen.

Mit Block und Bleistift auf die Funkausstellung

Ein weiterer Zeichner, dessen Arbeiten das Goethe-Institut derzeit um die Welt schickt, hat im Tagesspiegel ebenfalls eine Spur hinterlassen: Jens Harder, für seine bildliche Umsetzung der frühen Erdgeschichte unter dem Titel „Alpha“ in diesem Jahr vielfach gelobt und ausgezeichnet, hat im Tagesspiegel einst als „Comicreporter“ gewirkt. Zusammen mit anderen Zeichnern der von ihm mitbegründeten Künstlergruppe Monogatari schickte der Tagesspiegel Harder vor einigen Jahren mit Block und Bleistift auf die Funkausstellung, um gezeichnete Minireportagen zu liefern.

Ein Experiment, das wegen des großen Aufwandes und der teilweise irritierten Leserreaktionen allerdings keine dauerhafte Einrichtung wurde. Auch andere Comicprojekte blieben unvollendet. So begann der Tagesspiegel vor acht Jahren eine tägliche Comicserie von Kai Pfeiffer, in der er die skurrilen Abenteuer des fiktiven Neuköllner Detektivs Horst Borscht erzählte. Es gab Zustimmung bei den Lesern, aber die Reihe provozierte wegen ihres absurden Humors und avantgardistischen Zeichenstils auch Ablehnung und wurde rasch beendet. Dauerhaft erfolgreich sind hingegen die Kooperationen des Tagesspiegels mit dem Karikaturisten Klaus Stuttmann sowie dem Zeichner Sascha Dreier. Stuttmanns Arbeiten stehen fast täglich auf der Meinungsseite, Dreier schafft Woche für Woche für die Sonntagsbeilage ein Bilderrätsel. Streng genommen gelten die Arbeiten der beiden jedoch nicht als Comic, zumindest wenn man die geläufige Definition einer sequenziellen, mehrteiligen Bild-Text-Erzählung zugrunde legt.

Von den Peanuts bis zu Garfield

Mit seiner Offenheit gegenüber dem Medium Comic stellt sich der Tagesspiegel in eine lange Tradition, die fast so alt ist wie das moderne Zeitungswesen: Spätestens seitdem ab 1895 in dem in der „New York World“ und später auch in anderen Zeitungen veröffentlichten Strip „Hogan’s Alley“ die ersten gezeichneten Figuren um einen kleinen, später als Yellow Kid berühmt gewordenen Cartoon- Jungen begannen, sich in Sprechblasen auszudrücken, sind Comics ein fester Bestandteil des redaktionellen Angebots in Zeitungen. Die amerikanischen Nachfolger des Yellow Kid, von den Peanuts bis zu Garfield, gehören bis heute auch bei vielen deutschen Zeitungen zum Standard. Auch deutsche Zeitungscomics der frühen Jahre wie Erich Ohsers (alias e.o.plauens) Geschichten von „Vater und Sohn“ sind bis heute bei Lesern aller Generationen beliebt.

Da passt es, dass der Comicsalon Erlangen, das wichtigste Festival für deutschsprachige grafische Literatur, in diesem Sommer einen Schwerpunkt zum Thema veranstaltete: „Zurück zu den Wurzeln – Comics in der Zeitung“, lautete der Titel einer von Podiumsveranstaltungen begleiteten Ausstellung, bei der Comics aus dem Tagesspiegel und der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ im Mittelpunkt standen. „Comic lesen, das fand lange Zeit fast nur noch in den Druckmedien Heft, Album oder Taschenbuch statt“, schrieben die Comicsalon-Veranstalter im Katalog. „Doch seit einigen Jahren erobert sich der Comic gerade auch hierzulande das Medium zurück, in dem sein Siegeszug ursprünglich einmal begann – die Zeitung!“

Ein Ende des Trends ist nicht abzusehen. Im Gegenteil: „Die deutsche Comicstrip-Landschaft treibt mehr und buntere Blüten denn je“, resümiert Clemens Heydenreich im Comic-Jahrbuch des Vereins Interessenverband Comic. „So kreativ, vielfältig und qualitativ hochwertig wie zurzeit ist es noch nie zugegangen in der einheimischen Szene.“ Denn neben dem Tagesspiegel und der „FAZ“, die als Vorreiter für das Medium gelten, schmücken sich inzwischen viele weitere deutsche Tageszeitungen mit exklusiven Arbeiten aus den Zeichnerateliers der Republik.

(Der Text erschien in der Sonderbeilage des Tagesspiegels zum 65. Jubiläum am 27. September 2010.)

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