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Computerspiel-Design: Der aufrechte Gang des Jenova Chen

Der Computerspiel-Designer Xinghan "Jenova" Chen ist das derzeitige Wunderkind der Independent-Games-Szene. Mit seinen ungewöhnlichen Downloadtiteln "Flower", "Cloud" und "flOw" will er unser spielerisches Gefühlsleben bereichern.

Warum spielen wir? Xinghan Chen, Game-Designer und Mitbegründer des kalifornischen Entwicklerteams "thatgamecompany", hat sich intensiv mit dieser Frage beschäftigt. Die Antworten, die die marktführenden Videospielehersteller für uns bereithalten, hat er für unbefriedigend befunden. Lediglich modernisierte Variationen ewig gleich bleibender Spielkonzepte interessieren ihn nicht. Gewalt und Sex langweilen ihn. Grenzgänger Chen will Neuland erschließen, uns emotional fordern und mit einmaligen Spieleerlebnissen belohnen. Sein Werdegang steht exemplarisch für die Suchbewegungen einer neuen Generation von Entwicklern, die mehr wollen als unterhaltsame Zerstreuung und gewaltförmige Adrenalingewitter.

Die Erfolgsstory beginnt in China. In Shanghai absolviert Chen ein Informatik- und Grafik-Design Studium. Anschließend zieht es den jungen Mann in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Genauer gesagt an das Institut für interaktive Medien der Universität von Südkalifornien (USC). Hier versucht man dem rasanten Wandel der Games-Branche mit einem hohen Maß an akademischen Freiheiten zu begegnen. Chen schreibt sich in den Studiengang "Critical Game Studies" ein und widmet sich fortan der Analyse und Reflexion von Spielerfahrungen.

Die Emotionalisierung durch Videospiele steht erst am Anfang

Besonders die emotionale Grammatik von Spielerfahrungen treibt den angehenden Game-Designer um. Er untersucht den konkreten Einfluss von Computer- und Videospielen auf unser subjektives Gefühlserleben. Chen ist überzeugt, dass der überwiegende Teil der heutigen Spiele nur die schlichtesten Grundtöne auf der Klaviatur emotionaler Reaktionen anschlägt. Absatzstarke Ego-Shooter à la "Call Of Duty – Black Ops" sprechen in erster Linie das menschliche Grundgefühl der Angst an und erzeugen damit Aufregung – mit einem Videospiel ein Gefühl von Traurigkeit, Geborgenheit oder Verlust zu vermitteln, scheint dagegen ungleich schwerer. Die Branche kriecht in Chens Augen psychophysiologisch noch auf allen Vieren – was ihn interessiert, ist der aufrechte Gang, das gesamte Spektrum menschlichen Fühlens.

Auch Kellee Santiago, Studentin an der USC, ist von der emotionalen Monotonie eines virtuellen Kopfschusses gelangweilt und sucht jenseits etablierter Spielekonzepte nach etwas wirklich Neuem. Die beiden kommen ins Gespräch und finden schon bald Gelegenheit, ihre eigenen Vorstellungen eines interessanten Spiels zu verwirklichen. Ausgestattet mit einem Förderbudget von 20.000 US-Dollar und jeder Menge Mut zum Risiko, beginnen sie mit der Arbeit an "Cloud" – einem "Simulator für Kindheitsträume".

In "Cloud" liegt ein Kind in einem Krankenhausbett und beginnt zu träumen; von Wolken. Das Spiel versetzt uns in die Lage, schwerelos durch die Lüfte zu gleiten, die Wolken um uns herum zu manipulieren und Wetter zu erschaffen. Es ist ein zärtliches Videospiel, voller Freiheit und Hoffnung. Chen und Santiago sind zufrieden. "Cloud" wird ein erster Achtungserfolg und durchgehend positiv aufgenommen - der erste Schritt auf zwei Beinen ist getan.

Zur rechten Zeit am rechten Ort

Nach dem Studium versucht Chen sein Glück zunächst bei Maxis, der bekannten Spieleschmiede von Entwicklerlegende Will Wright, seines Zeichens Erfinder der "Sims". Eine Fehlentscheidung. Obwohl Wright als einer der innovativsten und kreativsten Schöpfer seiner Zunft gilt, fällt es Chen schwer, sich ihm unterzuordnen. Zu stark ist der Wunsch, eigene Visionen zu verwirklichen und die Suche nach wirklich avantgardistischen Formenrepertoires fortzusetzen. Er verlässt Maxis, verzichtet damit auf eine finanziell gesicherte Zukunft und gründet zusammen mit Kellee Santiago das kleine Studio "thatgamecompany".

Die beiden haben Glück. Das angebrochene Zeitalter der digitalen Distribution erhöht die Bereitschaft der großen Publisher, auch risikoreichere und "nischigere" Produkte zu finanzieren. Kleine, unkonventionelle Konzepte finden plötzlich Geldgeber. Im Falle von Chen ist es ein Deal mit Sony – drei Spiele darf das junge Studio für den Weltkonzern entwickeln und exklusiv auf dessen Online-Vertriebsplattform, dem "PlayStation Network" als Download-Only-Titel publizieren. Der Branchenriese finanziert die Entwicklung und erhält im Gegenzug Spiele, deren Inhalte auch Menschen ohne jahrelange Spieleerfahrung ansprechen. Sony hat bei der Vertragsunterzeichnung längst die Zeichen der "Casual-Games"-Zeit gelesen und will mit Chens Spielen die Produktpalette des hauseigenen Downloadportals diversifizieren. Eine neue Zielgruppe erfordert neue Ideen.

Eine Win-Win Situation, wie sich wenig später herausstellt. Bei der Entwicklung von "flOw" und "Flower" hat Xinghan Chen alle künstlerischen Freiheiten. Während "flOw" die Spieler auf zellularer Ebene eine surreale Biosphäre als Mikroorganismus erkunden lässt, ermächtigt das naturverliebte "Flower" seine Nutzer, in der Form des Windes Blütenstaub und Pollenkörner aufzunehmen und damit brachliegende Felder in blühende Wiesen zu verwandeln. Zwei bemerkenswert abwegige Spielideen also, die radikal mit den tradierten Mustern der Branche brechen. Beide Titel ziehen ungeahnte Aufmerksamkeit auf sich und verkaufen sich sehr gut. "Flower" wird zum Liebling der Kritiker, erhält zahlreiche Auszeichnungen und besetzt wochenlang Platz eins der Download-Charts.

"Journey" soll uns einsam machen

Inzwischen haben es sich die Sonderlinge Chen und Santiago mit ihrem Unternehmen an den Genregrenzen gemütlich gemacht. Auch ihr nächster Titel, "Journey", passt in keine Schublade und zielt auf ein von der Videospiel-Industrie lange vernachlässigtes Gefühl: Ganz alleine erforscht der Spieler oder die Spielerin in einer unwirtlichen Wüstenlandschaft die Überreste einer untergegangenen Zivilisation.

Das Gefühl der Einsamkeit möchte Chen bei uns erzeugen – zumindest so lange, bis uns ein weiterer, suchender Wanderer in der Einöde begegnet. Diese Figur wird dann von einer echten Person gespielt, die uns das Programm von irgendwo auf dieser Welt per Zufall zugeordnet hat. Ohne Chatfenster, ohne Sprechkontakt – nur mit Gesten und Gesichtsausdrücken - müssen wir mit eine Verbindung zu dieser Person aufbauen. Sollten wir dabei etwas empfinden, ist auch der Game-Designer Xinghan "Jenova" Chen seinem Ziel einen kleinen Schritt näher gekommen.
Tobias Heidemann ist Redakteur beim Spiele-Portal funload.de.

Tobias Heidemann

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